01.07.2018

Manfred Kern: „Die Bojen Gottes standen in einer Linie“

Neue EiNS-Serie: Zeit-Zeugen

Für eine neue Serie im EiNS-Magazin trifft Margitta Rosenbaum Zeitzeugen der Evangelischen Allianz. Den Auftakt macht Manfred Kern, langjähriger Vorsitzender und Generalsekretär der Evangelischen Allianz in der DDR – und lange auch eine prägende Figur der Allianzkonferenzen.

Manfred, du bist seit vielen Jahren mit der Bad Blankenburger Allianzarbeit verbunden. Wie hast du deine erste Konferenz in Erinnerung?

Vor 50 Jahren nahm ich zum ersten Mal an der Konferenz teil. 2018 ist für mich also ein Jubiläumsjahr. Adolf Pohl, der Direktor des baptistischen Theologischen Seminars in Buckow, überredete mich, mit nach Bad Blankenburg zu kommen. Und mich überwältigten die tausende gläubigen Menschen, die sich fünf Tage lang von morgens bis abends mit der Bibel beschäftigten. Das Thema 1968 lautete „Grundstein wahrer Gemeinschaft – Christus“: genau das Leitwort meines Lebens und Dienstes.

Die Konferenz war „Bibel pur“: Morgens Gebetsversammlung, dann folgten vier Bibelarbeiten zu einem biblischen Buch und ein Evangelisationsvortrag beendete den Tag. Das konnte man nur ertragen, weil die Verkündigung lebendig und aktuell war. Das Gelände sorgte für eine enge Gemeinschaft von Jung und Alt, in den Versammlungen wie in den überfüllten Schlafräumen. Auch unter den Komitee-Mitgliedern, die überall mit ihren Frauen mitarbeiteten, lebte diese Nähe. Allerdings überwog unter den Verkündigern bis auf wenige Ausnahmen die ältere Generation, denn die Berufung in das Komitee erfolgte auf Lebenszeit. 

Nach meinen Eindrücken befragt, antwortete ich Adolf Pohl: „Vieles sehr eindrucksvoll, aber nicht meine Kragenweite.“ Ich hatte schon Erfahrung in säkularen Jugendkreisen und in Gemeinde-Kindergottesdienst, Jungschar, Jugendrüsten und -evangelisationen. Darum kam meine Antwort bei Adolf Pohl schlecht an: „Schau auf die vielen jungen Menschen! Blankenburg braucht Mitarbeiter, die einen Draht zur Jugend haben. Ich bitte dich, bleib um der jungen Menschen willen!“ Er sagte das mit einer Vollmacht, der ich mich beugen musste. 

Was waren deine ersten Aufgaben als Mitarbeiter? 

Zunächst musste ich alle über 30-Jährigen daran hindern, sich in die einzige Jugendver sammlung einzuschmuggeln. Sie fand am Sonntag nach dem Mittagessen statt und musste vor allem kurz sein, um die folgende Bibelarbeit nicht zu behindern. 

Später wurde Johannes Dressler und mir dieser Jugendgottesdienst übertragen. Allerdings mussten wir jedes Lied vom Vorsitzenden absegnen lassen. Und als wir ein so gefährliches Thema wie „Mädchen, Liebe, junge Männer“ wählten, stürzten wir das Komitee in eine hitzige Debatte. Man ließ das Thema schließlich unter strenger Kontrolle zu. 

Schließlich durfte ich eine Gebetsandacht leiten, gehörte zum Kreis der Verkündiger, hielt Bibelarbeiten und Evangelisationsabende.

Welche Leitungsaufgaben hattest du in der Evangelischen Allianz, und wann war das?

Nach der Beauftragung für die Jungendversammlungen erhielt ich 1975 eine Berufung ins Komitee – und lehnte ab. Erst ein Jahr später sagte ich dem inzwischen veränderten und verjüngten Komitee, das die Berufung wiederholte, frohen Herzens zu.

Im Herbst 1979 ging der beliebte Vorsitzende Karl Wohlgemut in Ruhestand – und erklärte uns ohne Vorwarnung, dass er bereits im nächsten Monat in die Bundesrepublik übersiedeln werde. Er hätte seiner Frau den Wunsch nicht abschlagen können, nach Jahrzehnten in der DDR nach Württemberg zurückzukehren.

Was war zu tun? Johannes Dressler, ein Mann realistischer Vorschläge, sagte: „Brüder, wir gehen jetzt alle auf die Knie und bringen die Sache vor unseren Herrn. Dann schreibt jeder zwei Namen auf einen Zettel. Auf wen die meisten Stimmen entfallen, der muss für ein Jahr den Vorsitz übernehmen …“ Die Entscheidung fiel so eindeutig aus, dass ich mich ihr nicht entziehen konnte und wollte.

Ein Jahr ging schnell vorbei, auch ein zweites. Eine mühsame Suche nach der richtigen Person für den Vorsitz begann. Mein Stellvertreter Werner Beyer und ich konnten den wachsenden Dienst für die Allianz unseren Gemeinden und Familien nicht mehr zumuten – und gaben unseren endgültigen Rücktritt bekannt.

Bei einer Klausur dann fragte jemand aus unserem Kreis: „Bruder Kern könntest du dir vorstellen, den Dienst des Vorsitzenden hauptamtlich zu übernehmen?“ Meine Frau war in der Gemeindearbeit sehr verwurzelt und lehnte einen solchen Wechsel zunächst ab. Auch die Wohnungsfrage schien lange unlösbar. Aber am Ende des turbulenten Jahres 1982 standen dann alle Bojen Gottes in einer Linie. 

Und im Februar 1989 durfte ich meinen hauptamtlichen Dienst als Vorsitzender an Jürgen Stabe abgeben. Gott segnete seine Begabung besonders bei allen Entscheidungen, die die Wiedervereinigung mit sich brachte. Die Leitung des Konferenzausschusses, theologische und internationale Dienste führte ich als Generalsekretär weiter.

Welche Veränderungen wurden in deiner Amtszeit vorgenommen?

Die Frage führt mich zu jenen Punkt, der mir vor allem am Herzen liegt. In all den Jahren meines Dienstes in den Gemeinden, auch international, verstand ich mich als Zeuge der großen Taten Gottes in der DDR, einer Diktatur, die sich zum Ziel gesetzt hatte, den „religiösen Aberglauben“ samt christlicher Kirchen und Vereinigungen zu überwinden. 

Nur ein paar Blickpunkte dieser großen Taten Gottes: Für Jugend- und Kindererziehung beanspruchten Partei und Staat der DDR ein absolutes Monopol. Im letzten Jahrzehnt der DDR aber wandelte sich die Konferenz zum Treffpunkt der Jugend. Nach Stasi-Akten waren 80% der Teilnehmer 1988 Jugendliche unter 25 Jahre, 1989 sogar mehr als 81%!

Die DDR schottete ihre Bürger, auch Kirchen und Christen von der freien Welt ab. Nach zähen Verhandlungen aber konnten wir 1981 zum ersten Mal Delegierte zur Schweizer Allianzkonferenz entsenden. Und nach hartem Kampf erkannte das Staatsekretariat für Kirchenfragen unsere Mitgliedschaft in der Europäischen Allianz an. 

1983 konnten wir als Allianz im Stammland der Reformation zum ersten Mal offiziell eine Luther- und -Ratstagung durchführen, mit 60 Vertretern aus Westeuropa, aus den Ostblockstaaten und der Weltweiten Allianz. Und 1988 fand in Bad Blankenburg und anderen DDR-Städten die einzige jemals durchgeführte weltweite Konferenz christlicher Leiter aus allen noch kommunistischen Ländern statt. Die Auswahl der Eingeladenen lag in unserer Hand.

Die DDR war ein Staat des Mangels. Als der Allianzhaus-Direktor Karl-Heinz Mengs zum ersten Mal von einem dringend benötigten Haus sprach, erschien dies völlig utopisch. Aber 1986, zur 100-Jahr-Feier des Allianzhauses, konnten wir das neu erbaute „Haus des Glaubens“ einweihen. Westliche Allianzfreunde und viele Spender aus der DDR hatten ein deutsches Glaubens- und Gemeinschaftswerk errichtet.

Das öffentliche Leben in der DDR spielte sich unter den Augen der Stasi ab. In Blankenburg fanden unzählige junge Menschen einen Freiraum, den es für sie sonst in der DDR nicht gab. Mein Vorsitz der Allianz der DDR wurde nicht zuletzt getragen von mutigen und selbstlosen Mitarbeitern, die Gott uns immer wieder geschenkt hat.

Einer von ihnen gewesen zu sein, macht mich dankbar und demütig zugleich.

Vielen Dank für das Gespräch und deine Erinnerungen!

Margitta Rosenbaum ist Freie Journalistin und Referentin, Mitglied im Arbeitskreis Frauen und im Konferenzausschuss der Deutschen Evangelischen Allianz