09.10.2019

„Wir reden zu häufig mit Ausrufezeichen“

Generalsekretär Reinhardt Schink über Aufträge und das Herzblut der Evangelischen Allianz

Ein Interview mit Jörg Podworny und Martina Köninger

Mitte Juni war der Stabwechsel offiziell: Der promovierte Betriebswirt Dr. Reinhardt Schink ist neuer Generalsekretär der Deutschen Evangelischen Allianz. Mit Martina Köninger vom Arbeitskreis Perspektivforum Behinderung und EiNS-Redakteur Jörg Podworny sprach er kurz nach dem Start über geistliche Prägungen und Gotteserfahrungen, Emotionen im Berufungsprozess, eine „versöhnte Vielfalt“, die öffentliche Wahrnehmung von Evan-gelikalen und wie Evangelische Allianz zukunftsfähig bleibt. Der „Neue“ hat nichts dagegen, auch zu überraschen. Zum Interview zog es ihn nicht auf die Terrasse des Cafés, sondern auf den Spielplatz am Evangelischen Allianzhaus: „Jesus zeigt uns die Kinder als Vorbilder. Von ihrem Vertrauen dürfen wir ebenso lernen wie von ihrer spielerischen Leichtigkeit; gerade angesichts aller Veränderungsprozesse“, sagt er.

© K.-U. Ruof

Reinhardt, der CVJM München war eine wichtige Station in deinem Leben. Wie bist du da gelandet?
Ganz unfromm. Mein Impuls vorm Zivildienst war: Weg von daheim. Ich hatte damals zwei sportliche Hobbys: Skifahren und Windsurfen. Da war Bayern ideal – mit Seen und den Alpen in der Nähe. Ich habe mir ein Adressverzeichnis von Zivildienststellen schicken lassen: eine DIN A5-Broschüre voller Adressen und Telefonnummern. Unter „C“ war der erste Name, der mir etwas sagte: CVJM. Nach München hatte unsere Kirchengemeinde Beziehungen – und weil ich keine Lust hatte, noch weitere 50 Seiten Adressen zu lesen, habe ich da angerufen und bin hingefahren. Schnell wurde klar, dass diese Zeit viel mehr beinhalten würde als nur Skifahren und Windsurfen. Es gab geistlich viel zu entdecken, deshalb wollte ich auch nach der Zivildienstzeit dort noch länger bleiben.

Was hat dich dort fasziniert?
In den CVJM-Ortsvereinen gibt es ähnlich wie in der Deutschen Evangelischen Allianz eine große Bandbreite. Der Münchener CVJM hat – wie der Esslinger CVJM, der uns später mitgeprägt hat – ein spezifisches geistliches Profil, das unter anderem durch das Ernstnehmen des Wortes Gottes und die Betonung einer persönlichen Jesusbeziehung geprägt ist. Aber nicht individualistisch verkürzt, sondern gemeinsam mit anderen Christen, die mich ermutigen, stärken, aber auch korrigieren dürfen. Hier habe ich zum ersten Mal die praktische Relevanz des Bildes vom Leib mit vielen verschiedenen Gliedern verstanden. Glaube wurde für mich sehr lebendig und konkret. Auch weil ich Gott als meinen liebenden Vater im Himmel kennengelernt habe, der mich in seiner Hand hält, redet und handelt. Der CVJM München ist bekannt dafür, dass er dem Heiligen Geist gegenüber offen ist ...Ja, schon bei meiner Vorstellung damals haben mir die Verantwortlichen das gesagt. Ich fand das interessant: Ich hatte vom Heiligen Geist natürlich in der Bibel gelesen, aber diese dritte Person der Dreieinigkeit war mir sehr fremd. „Feuerzungen“ war mir das erste, das mir dazu einfiel. Und ganz im Ernst, das überstieg mein Vorstellungsvermögen. Dies gilt eigentlich heute noch. Der Heilige Geist ist immer überraschend anders und entzieht sich menschlichen Festlegungen und Kategorisierungsversuchen, aber er ist dabei nicht beliebig. Er lässt sich nicht in unser Schubladendenken pressen. Jedenfalls war ich damals vorurteilsfrei, neugierig und gelassen. Ich dachte: „Das ist spannend, vielleicht lerne ich hier eine neue Dimension des Glaubens kennen – warum sich dem verschließen?!“

Und, was hast du erlebt?
Es hat mit einer Enttäuschung begonnen. Fasziniert von den Geistes-gaben, habe ich darum gebetet. Und passiert ist: Nichts, zumindest zunächst! Aber ich habe eine wertvolle Lektion gelernt: Weder Gott, der Vater, noch Jesus, noch der Heilige Geist sind verfügbar; es ist immer Geschenk! Und es geht in erster Linie nicht um die vermeintlich spektakulären Geistesgaben an sich, sondern um meine Beziehung zu Gott. Es geht nicht um die Gaben, sondern um den Geber. Ich kann Ihm nichts abtrotzen oder mir verdienen. Staunend entdeckte ich, dass Gott mit jedem einen individuellen Weg hat – und sich darin seine große Wertschätzung ausdrückt. Eine zweite Lektion war: Das Leben mit Gott, mit dem Heiligen Geist ist etwas Prozesshaftes, das sich Schritt für Schritt entwickelt. Mit dem Heiligen Geist ist eine Unmittelbarkeit, eine Intimität, eine Vertrautheit in meine Beziehung zu Gott gekommen, die sich nicht in Geistesgaben festmacht, sondern viel wertvoller: Es ist das innere, liebevolle Verhältnis eines Kindes zu seinem Himmlischen Vater.

Neben dem CVJM bist du auch engagiert in der Bewegung „Miteinander für Europa“. Welche Rolle spielt das für dich?
„Miteinander für Europa“ ist vor Jahren gestartet damit, dass Christen auf Leitungsebene sich zusammengesetzt haben, aus einem ähnlichen Impuls wie bei der Evangelischen Allianz: Lasst uns gegenseitig nicht so sehr über das Trennende reden, sondern mehr über das, was uns verbindet; manchmal wird auch formuliert: über den „Christus im Anderen“. Das ist die gemeinsame Basis. Mittlerweile sind über 300 christliche Bewegungen und Gemeinschaften da beisammen. Spannend finde ich die Frage: Was können wir Christen für Europa beitragen? Dass wir also nicht aus der Negation leben, sondern den positiven Ansatz verfolgen: Wie können Christen helfen, dass Europa seine Seele behält? Das motiviert mich, dabei zu sein.

Im Allianz-Versicherungskonzern hast du verschiedene Management-Positionen bekleidet, die Rede ist von „Marktstrategie“ oder „Global Benefits“. Für Normalsterbliche: Was hast du bei der Allianz gemacht?
Nun, ich hatte die Chance, im Rahmen der Fortentwicklung alle paar Jahre eine neue Managementverantwortung übernehmen zu dürfen. Alle waren ganz unterschiedlich. Das finde ich das Tolle an der Unternehmenskultur der Allianz: Die Chance, sich durch neue Aufgabenstellungen immer weiter entwickeln zu können und dabei mit Kollegen zusammenzuarbeiten, die – neudeutsch gesprochen – „smart“ sind: clever, intelligent und gewitzt.

Kann man sagen: Reinhardt Schink ist jemand, der Strategie, Koordination und Kommunikation schätzt?
Ja. Solang die praktische Anwendung folgt: „Was heißt das in der Praxis?“ Sonst fehlt mir ein entscheidender Teil. Und mir ging’s immer darum, die verschiedenen Perspektiven zu verstehen. Eine Herausforderung in Unternehmen ist, dass Juristen, Betriebswirte, Steuer- und Marketing-Menschen, Personaler oder Verkäufer alle Spezialisten auf ihrem Fachgebiet sind. Aber es braucht eine „Übersetzungsarbeit“ zwischen ihnen, sonst verstehen sie sich nicht. Die Übersetzungsarbeit ist mühsam, führt aber zu innovativen und smarten Lösungen, die zudem dem Frieden dienen. Lösungen, die ermöglichen, dass Unternehmensbereiche, die zuvor unterschiedliche Interessen hatten, vielleicht so-gar gegeneinander gearbeitet haben, am Ende zusammenarbeiten. Das war für mich die größte Befriedigung im Beruf

.... von dem wir immer noch nicht wissen, womit du dich beschäftigt hast. Lässt sich das irgendwie umreißen?
In meiner letzten Funktion bei Allianz Global Benefits war ich als Head of Market Management verantwortlich für Marketing, Strategie und Kundenorientierung, mit Schnittstellen zur Vertriebssteuerung, Produktentwicklung und die Koordination eines Netzwerks von über 125 Versicherern in rund 90 Ländern. Um internationalen Unternehmen globale Lösungen für ihre Employee Benefits – im weitesten Sinn Altersversorgung und betriebliche Krankenversicherung – aus eigener Hand anzubieten. Davor hatte ich unterschiedliche Managementaufgaben, hauptsächlich im Bereich der betrieblichen Altersversogung, sei es Vertriebsverantwortung, internationales Business Development, Stabsaufgaben oder auch die Leitung einer Verwaltungsabteilung mit gut 80 Mitarbeitern.

Die Frage muss sein: Würdest du nach wie vor sagen „Hoffentlich Allianz-versichert“?
Absolut ... ich bin’s übrigens immer noch (lacht).

Als im Frühjahr, Sommer 2018 die Anfrage zum Allianz-Generalsekretär kam – was hat dich da bewegt?
Die Anfrage kam überraschend. Als Familie hatten wir dies überhaupt nicht auf dem Radarschirm. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass jemand, der nicht unmittelbar aus der Evangelischen-Allianz-Welt kommt, kein Theologe ist, bislang hauptamtlich kein christliches Werk geleitet hat, eine ernsthafte Option für die Besetzung dieser verantwortlichen Stelle sein könnte. Aber beim genaueren Prüfen haben wir dann festgestellt, dass in dem, was auf den ersten Blick überraschend aussieht, doch einiges zusammenpasst. Ein Beispiel: Im CVJM wie in der Allianz-Gruppe ging es darum, wie sich ein Netzwerk von relativ unabhängigen Einheiten steuert. Ein Herz für die Einheit, Brücken zu bauen und Frieden zu stiften – das ist auch in der Evangelischen Allianz gefragt. Ebenso die Notwendigkeit, finanzwirtschaftliche Analysen mit einer geistlichen Betrachtung zusammenzubringen. Darum haben wir gesagt: Wir wollen prüfen, ob nicht doch ein Ruf Gottes darin liegt.

Bei der endgültigen Entscheidung hat dann auch eine Fehlbuchung in einem Hotel in Bangkok eine Rolle gespielt ...
Ja. Die Entscheidung war ein längerer Prozess, der auch emotional anstrengend war, denn so eine Entscheidung hat ja weitreichende Konsequenzen. In dem Fragen, was der richtige Weg ist, habe ich Gott in einer ganz neuen Weise erlebt: Er geht lange Prozesse mit, begleitet sie in großer Liebe und wertschätzend und mit viel Freiheit. In dieser Phase des Entscheidungsprozesses war ich auf einer Asienreise und fand mich aufgrund eines Buchungsfehlers in einer Luxusunterkunft im Herzen Bangkoks wieder. Drei freie Tage an einem riesigen Infinity-Pool, den ich fast für mich alleine hatte, bewegte mich über den Dächern Bangkoks die Frage: Bist du bereit, diese Welt loszulassen? Diese Glitzerwelt des Geldes, des Luxus und der Statussymbole. Aber, danach konnte ich die Tür zuziehen und sagen: Herr, wenn du jetzt wirklich in eine andere Aufgabe rufst und wenn dazu gehört, all das andere loszulassen, dann ist das in Ordnung!

Gott begleitet uns, geht ganz individuell auf jeden ein ...
Ja. Auch dass er so lang die Frage zulässt: Was lass ich alles los? Gott muss zwischendurch gedacht haben: Reinhardt, du stellst die falsche Frage! Denn: Ja, natürlich lass ich auch was los – aber wieviel anderes gewinne ich dafür?! Was für ein unglaubliches Vorrecht ist es, vollzeitlich im Reich Gottes arbeiten zu können!

Du hast im Sommer 2018 inkognito bei der Allianzkonferenz in Bad Blankenburg gezeltet. Auf die Idee kommt nicht jeder ...
Ich wollte verschiedene Gruppen der Evangelischen Allianz kennenlernen, und beim Zelten ist klar, dass ich auch auf viele junge Leute treffen werde. Es war gut mitzubekommen: Wie nehmen die Jungen die Evangelische Allianz wahr? Was ist ihnen wichtig? Insgesamt war es eine Superzeit, mit vielen guten Erlebnissen – diese Tage haben wirklich Lust auf die Evangelische Allianz gemacht!

Was waren dann in Sachen Berufung die Kernpunkte für dich zu sagen: „Ja, mach ich“?
Der Kernpunkt war, beim Gedanken an den möglichen neuen Lebens-abschnitt einen großen inneren Frieden zu spüren. Daneben gab es natürlich auch viele Gespräche und Gebete; aber der innere Frieden war das Entscheidende. Ich erlebe jetzt, dass mir ein großes Vor-schuss-Vertrauen entgegengebracht wird sowie viele offene Türen und Herzen. Dafür bin ich dankbar und verstehe es auch als Bestätigung für die Entscheidung.

Wie siehst du die Deutsche Evangelische Allianz im Sommer 2019 grundsätzlich aufgestellt?
Ich nehme sehr viel Positives wahr. Der Grundimpuls ist: Wir wollen als Einheitsbewegung auf das schauen, was uns verbindet, und aus dem Vertrauen, aus der Schrift und aus dem Gebet heraus leben. Wir wollen nicht schlecht übereinander reden und auch bei Meinungsunterschieden erstmal miteinander, bevor wir übereinander reden. Natürlich: Mit der Vielfalt steigt auch die Gefahr von Missverständnissen. In einer zunehmend ausdifferenzierten Gesellschaft wird gefragt, was die evangelikale Meinung ist. Deshalb sollten wir zwischen letzten und vorletzten Dingen unterscheiden, um uns nicht in „Nebenkriegsschau-plätzen“ zu verlieren, Wichtig finde ich, dass wir klar sind für was wir stehen.

Das heißt Einheit in der Verschiedenheit zu leben?
Genau. Übrigens: Wir sind nicht dann eins, wenn alles gleichförmig ist. Jesus hat uns zu einer Einheit im Geist gerufen und darum gebetet, dass wir eins sind. Diese Wesenseinheit hat er selbst seinen Nachfolgern geschenkt, wir sind Kinder Gottes und bilden eine Willens-Einheit mit dem dreieinigen Gott, damit die Welt glaube. Deshalb stehen wir gemeinsam für Evangelisation, für Glauben und das Gebet, für Lebensschutz, für die Wahrheit des Wortes Gottes, ...

Manche Christen haben auch Angst ... dem Zeitgeist hinterherzulaufen, den Glauben zu „verlieren“...
Es ist eine Herausforderung, sich nicht von Angst treiben zu lassen. Aber aus dem Vertrauen heraus zu leben: Wir sind in Gottes Hand ge-borgen, das eröffnet Räume, wo wir sonst in Abgrenzung leben, dicht-machen, hart werden würden. Ich erlebe bei Jesus immer beides: eine große inhaltliche Klarheit – und zugleich eine Offenheit, ganz anders zu sein als die Zeitgenossen sich gedacht haben, wie Gott zu sein hat.

Hartmut Steebs großes Thema auch in der Evangelischen Allianz war das Lebensrecht, er hätte gern eine „ProLife“-Bewegung ins Leben gerufen. Was sind deine persönlichen Herzensanliegen?
Einmal möchte ich natürlich das weiterführen, wofür Evangelische Allianz steht. Dass wir wertkonservative Positionen, Fragen von Lebensstil, ethische Fragen betonen – das ist überhaupt keine Frage! Was mich in letzter Zeit sehr stark bewegt, ist die Bitte im Vaterunser: „Geheiligt werde dein Name!“ Ich wünsche mir, dass wir dafür einstehen, dass in den unterschiedlichsten Fragestellungen unserer Gesellschaft Gottes Name wieder einen guten Klang bekommt.Und dann planen wir für Ende Oktober ein Zukunftsforum in Hannover. Da wollen wir mit vielen verantwortlichen Leuten, auch Jüngeren, zusammen schauen: Was sind die Impulse, die Gott jetzt setzen möchte – und was könnten wir dabei tun?

Wer soll bei dem Forum mitdenken?
Es ist keine klassische Konferenz, bei der jeder sich anmelden kann. Über das Netzwerk der Evangelischen Allianz laden wir Verantwortungsträger und Menschen mit Führungspotential ein, die sich in diesem Netzwerk engagieren wollen. Das Forum wird sehr partizipativ gestaltet sein, um gemeinsam die nächsten Schritte und Umsetzungsmöglichkeiten zu erkennen. Da das Forum gemeinsam mit einer Sitzung des Hauptvorstands stattfindet, können die Impulse aus dem Forum bereits in einem wesentlichen Gremium wahrgenommen und beraten werden. Zusätzlich planen wir für 2020 und 2021 Regionaltreffen, um Impulse aus dem Zukunftsforum in die Breite zu bekommen. Denn es ist vollkommen klar: Was nicht in den Ortsallianzen gelebt wird, findet nicht statt.

Zu den Fragen des Zusammenlebens in der Gesellschaft gehört auch, dass in den vergangenen Jahren viele Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen nach Deutschland kommen, sich zum Teil zum christlichen Glauben bekehren, Gemeinden gründen. Wie kann Evangelische Allianz hier gutes Zusammenleben fördern?
Zuerst möchte ich sagen, dass es eine große Stärke der Evangelischen Allianz ist, dass wir das Thema früh aufgegriffen und ernsthaft adressiert haben. Hier wurde schon viel gute Arbeit geleistet, die aber leider noch nicht sehr bekannt ist. Beispielsweise helfen wir, Menschen mit Migrationshintergrund das Evangelium zu erklären. Zudem wollen wir Menschen mit einem anderen kulturellen und religiösen Hintergrund, die Gott uns nach Deutschland schickt, positiv begegnen. Wie kann es gelingen, dass Migrantengemeinden nicht nur neben den klassisch-deutschen Gemeinden entstehen, sondern dass es zu einem Mit-einander kommt? Lasst uns überlegen, was an uns liegt, dass wir ihnen Heimat sein können, so dass wir die geistliche Realität des „Leibes Christi“ hier in Deutschland leben! Das Positionspapier der Evangelischen Allianz „Gemeinsam Gott loben“ ist hierfür eine wertvolle Hilfe.Es mag sein, dass wir beim Thema Migration unterschiedliche politische Ansichten vertreten. Aber die Menschen sind nicht nur Belastung, sondern auch ein Geschenk. Dies gilt es zu entdecken und sie in unseren Alltag zu integrieren. Das alles höre ich auch als eine Anfrage von Gott: Wollt ihr dies wirklich? Darf es euch auch Mühe und Geld kosten?

Als Arbeitskreis Perspektivforum Behinderung der Deutschen Evangelischen Allianz ist es unser besonderes Anliegen, dass unsere Kirchen und Gemeinden offen sind für Menschen mit Behinderung. Laut Weltgesundheitsorganisation sind rund 15% der Bevölkerung Menschen mit Behinderung. Welche Möglichkeiten siehst du, dass wir in unseren Gottesdiensten einen mindestens genauso hohen Anteil von Menschen mit Behinderung willkommen heißen können?
Ich bin dankbar, dass es das Perspektivforum Behinderung gibt, weil wir erstmal lernen müssen, die richtigen Fragen zu stellen: Warum sind anteilsmäßig so wenig Menschen mit Behinderung bei uns? Hat das praktische Gründe, z.B. weil sie mit dem Rollstuhl einfach nicht über die Treppe in die Kirche kommen können? Oder weil kein Abholdienst organisiert ist? Grenzen wir Menschen mit Behinderung vielleicht un-gewollt und unwissentlich aus? Oder haben Menschen ohne Behinderungen auch einfach Angst, etwas falsch zu machen? Ich würde mir wünschen, dass wir uns ganz natürlich gegenseitig wahrnehmen und deutlich machen: Wir wollen miteinander! Das Bild vom „Leib Christi“ gilt auch an der Stelle. Alle gehören dazu. Und die praktischen Hindernisse, die dem im Weg stehen, räumen wir gemeinsam aus.

In Deutschland jährt sich 2019 zum zehnten Mal die Ratifizierung Deutschlands der UN-Behindertenrechtskonvention. Danach gibt es gesetzlich ein Menschenrecht, dass Menschen mit Behinderung teilhaben an der Gesellschaft. Ein großer Wunsch ist, dass das auch in Gemeinden passiert: dass nicht „aus Barmherzigkeit“ eine Treppe gebaut wird, sondern ein grundsätzliches Umdenken stattfindet. Wie kann das mehr in die Breite der Gemeinde kommen?
Diesen Wunsch unterstütze ich voll und ganz. Die christliche Gemeinschaft bewegt sich nicht auf der Ebene der juristisch einklagbaren Ansprüche, sondern auf der Ebene gelebter Liebe. Dass ich also schon beim Bauen – als Ausdruck gegenseitiger Wertschätzung und Liebe – darüber nachdenke, wie dies barrierefrei geht. Oder dass ich bei den Programmen nachdenke: Wie muss es gestaltet sein, dass sich jemand willkommen geheißen fühlt? Es ist wichtig, eine Gemeinde-Kultur zu leben, in der Liebe ihren sichtbaren Ausdruck findet. In allen Bereichen des Lebens, bis hinein ins Denken und Fühlen. Dies ist die große Chance von dem verheißenen fleischernen Herz, anstelle des steinernen. Gelebte Nächstenliebe: Nichts was eingeklagt werden muss, sondern was als selbstverständliche Identität der Nachfolger Jesu ihren Alltag bestimmt.

Ein wichtiger Aspekt in den zurückliegenden Jahren war das Thema „Brücken zum Miteinander“, Leben „in versöhnter Vielfalt“ – das offensichtlich nicht in allen Teilen möglich war. Du hast vorhin gesagt: Wir müssen auch nicht in allem gleich und konform denken. Wie lässt sich heute tatsächlich „versöhnte Vielfalt“ leben?
Zunächst gilt es zu bejahen, dass es diese Vielfalt im Reich Gottes gibt: dass da „komische Vögel“ mit mir gemeinsam unterwegs sind. Menschen, die ich mir vielleicht nicht aussuchen würde, die aber trotzdem ein Teil der Gemeinschaft sind. Zweitens braucht es eine Grundhaltung, die sich nicht in Abgrenzung zu anderen definiert, sondern im Vertrauen auf Gottes Verheißungen in Gott selber ruht. Die sagen kann: Es gibt manches im Reich Gottes, das ich nicht verstehe. Aber solang der Herr mit dabei ist, bin ich auch mit an Bord. Ein drittes wäre, die Stärke, dass wir Bekenntnisbewegung sind, zu behalten – aber zu verstehen, dass die Kraft des eigenen Bekenntnisses nicht in dessen Lautstärke oder Schärfe liegt. Mir kommt es manchmal so vor, dass wir viel zu häufig mit Ausrufezeichen reden – und denken: Je massiver wir auftreten, desto mehr Vollmacht oder Durchschlagskraft haben wir auch. Im Neuen Testament entdecke ich jedoch, dass Jesus vielen Gesprächen durch Fragen die entscheidende Wendung gab. Seine Gesprächspartner reflektierten in diesen Situationen ihre eigenen impliziten Denkhaltungen und Wertungen. Das Bekenntnis will nicht nur auf der Sachebene durch das rationale Argument überzeugen, vielmehr sucht es auch die Person hinter dem rationalen Diskurs zu gewinnen. Und ein letzter Punkt: Ich trete dafür ein, dass wir uns nicht wichtige Begriffe des Glaubens, wie z.B. Evangelisation, rauben lassen. In der Geschäftswelt finden sich viele Visitenkarten mit dem Aufdruck: „Business Evangelist“, „Technology Evangelist“ oder auch „Social Media Evangelist“. Mir hat noch keiner dieser Geschäftsleute seine Visiten-karte mit einem verlegenen Lächeln oder rotem Kopf überreicht. Ganz im Gegenteil. Das waren alles Menschen, die voll Überzeugung für ihre Sache standen und denen es nicht im Traum eingefallen wäre, sich für den Begriff „Evangelist“ zu entschuldigen. Offensichtlich lassen nur wir Christen uns einreden, Mission und Evangelisation seien irgendwie „igittigitt“. Und wir dürften das nicht mehr machen. Doch, dürfen wir! Wenn ich für ein Thema brenne, treibe ich es vorwärts. Und natürlich will ich dann davon reden. Wo ist das Problem?

Ist es danach auch dein Wunsch, dass sich das Bild, das die Gesellschaft von „den Evangelikalen“ hat, verändert?
Ja, natürlich. Ich wünsche mir, dass deutlich wird: Wir lassen uns nicht vor den Karren einer politischen Partei spannen und distanzieren uns vor allem von jedem extremistischen und populistischen Rand. Lasst uns außerdem den Begriff „evangelikal“ wieder positiv zurückgewinnen: Evangelikale sind Menschen, die hinter das Vordergründige schauen, weil sie ihre Knie nicht vor dem Zeitgeist und seinen simplifizierenden Heilsversprechen beugen. Menschen, die mit einer christusgemäßen Haltung, mit Menschenfreundlichkeit, Zugewandtheit, Interesse und Demut in Begegnungen gehen.

Versteht man die Deutsche Evangelische Allianz als „Dienstleister“ des Reiches Gottes in Deutschland, kommt man nicht an der Frage vorbei: Was kann Evangelische Allianz – von Bad Blankenburg aus – an Impulsen geben für die Christenheit in Deutschland?
Gott hat seit dem 19. Jahrhundert hier in Bad Blankenburg einen Segensstrom freigesetzt, der weit über den Ort hinaus Auswirkungen hat. Neben allen praktischen Veränderungen und betriebswirtschaftlichen Fragen, die sich immer stellen, wird es darum gehen, die Im-pulse wahrzunehmen, die Gott für Bad Blankenburg hat und die von hier aus ins Land gehen sollen. Ich habe eine große Überzeugung, dass Gott treu zu seiner Berufung der Evangelischen Allianz steht. Wenn man nach Bad Blankenburg kommt, merkt man, hier ist etwas Besonderes, das ich woanders nicht ohne Weiteres finde. Aber das ist kein Erfolgsrezept, das man einfach managen, duplizieren oder weiterfühen könnte. Es geht darum, dass eine geistliche, innere Wirklichkeit eine äußere, sichtbare Gestalt gewinnt. Dies hat etwas mit Schönheit und Authentizität zu tun, geht aber gleichzeitig weit darüber hinaus.

Zum Schluss: Wie ist – und bleibt – Evangelische Allianz zukunftsfähig? Wie sähe das Idealbild aus, das du malen würdest?
Sie ist relevant für die beteiligten Werke und Ortsallianzen, findet also im Leben der Menschen vor Ort statt. Sie ist sehr unmittelbar am Herzen Gottes und greift Impulse auf, die Gott gibt. Sie hat gesellschaftliche Relevanz, weil sie liebevoll und klar für die Wahrheit einsteht.Sie ist also nicht eine menschengemachte Institution, die auf eigener Cleverness beruht und mit eigenen Strategien ein professionelles Programm betreibt. Sondern sie lebt unmittelbar und glaubensvoll aus den überraschenden Impulsen Gottes. Diese greift sie in kindlicher Einfachheit in der „Einheit des Leibes Christi“, in versöhnter Vielfalt auf – und setzt sie dann mit viel Herzblut und professionell um.

Amen dazu! Vielen Dank für das Gespräch – und reichlich Segen für die Zukunft!