Den Kompass neu justieren

Wie Reformation auch nach dem "Refo-Hype" gelingen kann

Wenige Themen werden gegenwärtig so sehr bemüht wie die Reformation. In der Kirche, in Kultur und Politik, nicht zuletzt im Tourismus! Alle haben das Thema entdeckt. Im Jahr 2017 hat man fast den Eindruck, als lebte der ehemalige Mönch aus Wittenberg wieder mitten unter uns. 

Luther ist fast allgegenwärtig. Mal hübsch und harmlos als Playmobil-Männchen mit Buch und Feder, mal schmackhaft als Lutherbier, manchmal eher peinlich als Plastik-Lutherzwerg. 

Habe ich mir durch diese Aufzählung schon Feinde geschaffen? Auf jeden Fall muss deutlich gesagt werden: Wirkliche Hilfe für die Kirche kommt nicht von einem „Refo-Hype“, sondern, wenn überhaupt, von einer Wiederentdeckung; vom Ernstnehmen dessen, was Luther wollte und seine Mitstreiter mit ihm. Wenn wir das verstehen, haben wir vielleicht eine Chance, gegen den Trend der Zeit als Kirche zu wachsen. Vielleicht nicht in Zahlen, gewiss aber in eine neue, unbedingt notwendige geistliche Tiefe hinein. 

Deshalb gilt es, alle einseitigen Umdeutungen des Reformationsgeschehens möglichst schnell zu entsorgen. Davon gibt es viele, historische und gegenwärtige. Das, was heute in und zeitgemäß ist, landet mit hoher Wahrscheinlichkeit wie viele Trends auf dem Schrotthaufen der Geschichte. 

Eine Umdeutung der Reformation, die noch vor hundert Jahren in Mode war, sehen wir heute kopfschüttelnd: Luther wurde damals als der Inbegriff des deutschen Mannes gefeiert, die Reformation als ein Ausdruck der deutschen Volksseele. Der einfache, deutsche Mönch steht auf gegen den mächtigen römischen Papst. Die deutsche Sprache wird gesetzt gegen das Latein der Kirche. Luther wird in dieser Deutung zum Nationalheiligen. An dieser nationalen Deutung des Reformators trifft manches zu: Die schöpferische Kraft der Lutherbibel hat unsere Sprache geprägt wie kein anderes Buch. Und ja, es war eine Last für den einfachen Mann, mit dem sogenannten „Peterpfennig“ das gigantische Bauvorhaben des Petersdoms in Rom mitzufinanzieren. Ja, die Fürsten, die Luther stützten, wollten möglichst unabhängig vom Kaiser sein. Und ja, Luther war ein echter deutscher Denker und Dichter, mit einem Querkopf, der es anderen und auch sich selbst schwer macht. 

Aber da endet die Reichweite dieser Deutung Luthers auch schon. Denn all das waren nur Randerscheinungen. Luther hat kein Deutschtum gepflegt und erst recht nicht provinziell gedacht. Dafür war er im Lateinischen viel zu sehr zu Hause. Er stand im engen Austausch mit einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, die ganz Westeuropa umfasste. Nein, Luther schrieb nicht deutsch – neben seinen vielen lateinischen Werken – aus nationalistischer Anwandlung, sondern aus missionarischen Gründen. Alle sollten die Botschaft der Gnade Gottes verstehen können! Es ging ihm um Gott und den Himmel. Darum veränderte er die Welt. Sein Handeln in einer rein politischen Dimension einfangen zu wollen, macht ihn und die Reformation viel zu klein. Er war kein Botschafter des Deutschtums, auch kein Handlanger der deutschen Fürsten, sondern ein Botschafter Jesu Christ an die Kirche: weit über seine Heimat hinaus, an den spanischen Kaiser und den römischen Papst genauso wie an den englischen König Heinrich, an den er schrieb; und an den Bürger von Wittenberg. Die Deutung Luthers als Sprecher der deutschen Seele greift viel zu kurz. 

Genauso steht es mit heutigen Deutungsmustern. Immer wieder wird beschworen, in der Reformation ginge es im Wesentlichen um die Entdeckung der Freiheit. Luther ist hier der Überwinder mittelterlicher religiöser Zwangsvorstellungen und in diesem Sinne ein Befreier schlechthin. Das Schlagwort der Reformation habe deshalb „Freiheit“ gelautet. Deshalb sollten wir jetzt vor allem diese Freiheit feiern und zum zentralen Programmpunkt erheben. 

Nun, das ist genauso richtig wie es falsch ist. Ja, Martin „Luder“ hat sich in „Luther“ umbenannt, im Anklang an das griechische „eleutheros“ – „der Freie“. Er hat von der „Freiheit eines Christenmenschen“ geschrieben. Aber er hat betont, dass der „Christenmensch jedermanns Knecht und allen untertan“ sei. Nach absoluter Freiheit – womöglich noch von Gottes Geboten, wie häufig unterschwellig beschrieben – hört sich das nicht gerade an. Und wenn Luther vor Kaiser und Reich betont, dass sein Gewissen in Gottes Wort gefangen sei, und er sich deshalb nicht im Stande sieht, den leichteren Weg des Widerrufs zu gehen, dann ist spätestens klar: Hier spricht einer, der in einer absoluten Bindung an Gottes Wort und Willen lebt. Er kann nicht anders, als diesen Weg, vom Wort Gottes gewiesen, zu gehen. Deshalb ist er dann auch frei gegenüber Kaiser und Reich. Aber nicht in einer autonomen Freiheit des Menschen, sondern in der Freiheit eines an Christus und sein Wort Gebundenen. Ein abstraktes, theoretisches Reden von „Freiheit“ begreift nicht, worum es bei der Reformation damals ging – und heute gehen könnte.

Reformation für heute: Jesus im Zentrum

Genug aber der Abwehr einseitiger Deutungen. Wichtiger ist die Frage, wie eine wirkliche Reformation in unserer Zeit gelingen könnte. Ich möchte diese notwendige Neuausrichtung in fünf Zielsetzungen benennen, die sich an die „sola“ der Reformation anschließen. Ich spreche hier von Prioritäten, die uns als Einzelne und Gemeinden und schließlich unsere Kirche als Ganzes leiten können auf dem Weg einer Reformation, dem Weg einer geistlichen Erneuerung und Umgestaltung für die Zukunft.

Priorität Eins: Jesus Christus. Jesus, wahrer Mensch und wahrer Gott. Wenn wir eine neue Reformation wollen, muss Jesus wieder ins Zentrum rücken. In zu vielen Predigten wird nur noch allgemein von Gott geredet. Aber Gott hat sich offenbart in Jesus. In ihm ist die Erlösung. In keinem anderen ist das Heil (Apg 4,12) Paulus formuliert so: „Denn nicht von uns selbst reden wir öffentlich, sondern der Inhalt unserer Botschaft ist Jesus, der Messias. Ihn proklamieren wir als Herrn“ (2. Kor 4,5). 

Leider ist das eher die Ausnahme. Wir verkünden ständig uns selbst: Unsere Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten. Unsere politischen Überzeugungen. Unsere Dogmen, Erkenntnisse, geistlichen Eindrücke und Visionen. Wenn wir eine Reformation wollen, muss Jesus wieder in den Mittelpunkt rücken. Wir müssen wieder von Jesus reden, nicht nur vornehm von „Christus“. Jesus ist sein Name. Christus ist sein Titel. Erneuerung wird geschehen mit Jesus (wieder) im Zentrum. Anstößig ist das sicher für manche, nicht zuletzt für die, die am liebsten die Unterschiede zwischen den Religionen einebnen wollen. 

Hier geht es nicht um Rechthaberei. Auch nicht um Ablehnung von Menschen, anderen Religionen und Kulturen. Es geht um etwas anderes: Um die demütige und klare Annahme der Klarheit und Wahrheit, die uns Gott in Jesus Christus geschenkt hat.

Priorität Zwei: Die Bibel. Wenn wir als evangelische Christen eine Neuorientierung brauchen, dann hier. Längst sind wir nicht mehr vorrangig eine „Kirche des Wortes“, sondern eine „Kirche der unzähligen Worte“. Darunter wird das „eine Wort“ Gottes in seinem Zuspruch und seinem Anspruch an uns fast völlig übertönt. Die Bibel führt eine Randexistenz. 500 Jahre nach der Reformation herrscht unter Christen, besonders unter den evangelischen, einschließlich der „evangelikalen“, eine erschreckende Bibelarmut. Wir haben die Bibel auf dem Regal oder im Smartphone, aber viel zu wenig in unserem Herzen, unserem Gedächtnis, unseren Gesprächen und unserer Entscheidungsfindung. Oft habe ich den Eindruck – und sage das bewusst so subjektiv –, dass die Bibel heutzutage einen größeren Platz im katholischen Bereich einnimmt als im Protestantismus. Die Bibel muss wieder ins Zentrum! Sie muss wieder gelesen, ausgelegt, diskutiert werden. Gern auch kritisch und kontrovers. Aber auch dankbar und persönlich und gläubig. Ohne einen neuen Aufbruch hin zur Bibel wird das nichts mit einer neuen Reformation!

Priorität Drei: Die Gnade. Hier sind wir besonders schwach auf der Brust. Fromme und Nichtfromme gleichermaßen: Wir sind sehr ungnädig mit denen, die Fehler machen oder schuldig werden. Ich bin zutiefst überzeugt: Nur, wenn wir wieder lernen, als begnadigte Sünder miteinander umzugehen, gibt es Hoffnung für neue Aufbrüche, für volle Kirchen und eine neue missionarische Kraft.

Was bedeutet das? 

Erstens muss Sünde wieder als Sünde gelten dürfen und nicht wegdiskutiert und wegrationalisiert werden. Und zweitens: Gnade muss wieder ernst genommen werden. Konkret: Christen sind keine moralischen Helden – und können und müssen es auch nicht sein. Stattdessen sind sie begnadigte Sünder. Das Geschocktsein über die Sünden der Heiligen zeigt nur, dass wir die Bibel im Kern noch nicht verstanden haben. Dabei ist es so klar: „Hier gibt es überhaupt keinen Unterschied: Alle Menschen haben gesündigt und bleiben deshalb weit hinter dem Anspruch Gottes zu rück, der in seinem wunderbaren Wesen begründet ist. Doch sie alle werden aufgrund seiner gnadenvollen Zuwendung gerecht und freigesprochen durch die Erlösung, die der Messias Jesus bewirkt hat“ (Römer 3, 22-24). Wir brauchen eine Neuentdeckung der Sünde als wirkliche Sünde und der Gnade als wirklicher Gnade. Das und nichts anderes steht im Kern des Christseins. Alles andere ist Moral, Idealismus, Gesetzlichkeit oder Selbsttäuschung. Erneuerung kommt aus der Botschaft von der freien Gnade für echte Sünder.

Priorität Vier: Der Glaube. Wir müssen – und dürfen – aufhören mit allen Selbstrechtfertigungsversuchen, mit allem Schuld-auf-andere–Schieben, mit allen vergeblichen Versuchen der Selbstverbesserung. Der Weg zu Gott ist längst frei durch Gottes Gnade, die uns in Jesus angeboten ist. Der Glaube ist nicht mehr und nicht weniger als unser vertrauensvolles Ja dazu. Besser: Zu Ihm, zu Jesus, von dem Paulus direkt danach sagt: „Ihn hat Gott in die Mitte gestellt als ewig gültige Versöhnung, die er, der Messias, durch sein eigenes Blut bewirkt hat und die im Vertrauen angenommen werden kann“ (Römer 3, 25). Das ist der Weg: Allein durch Glauben!

Damit das möglich wird, muss Evangelisation, die Verkündigung dieser guten und befreienden Botschaft, wieder zum Kerngeschäft der Kirche werden. Die Einladung zu genau diesem Glauben an Jesus muss Priorität haben in allem, was wir als Gemeinden tun. Evangelisation gehört aus der Schmuddelecke wieder ins Zentrum. Wenn wir das nicht begreifen und umsetzen, schaufeln wir heute am Grab der Kirche von morgen. Nur wenn der Glaube und der Ruf zum Glauben wieder Zentrum und Ziel werden, gibt es die Chance für eine neue Reformation.

Eine Priorität füge ich an. Sie gehört nicht zu den vier klassischen „sola“ der Reformation, ist aber entscheidend.

Priorität Fünf: „Soli Deo gloria!“ – „Allein Gott sei die Ehre!“ Menschenehre oder Gottesehre? In Kirchen und Werken, in Vereinen und Organisationen, im eigenen Herzen … geht es häufig um die Frage der Ehre. Wieviel von dem, was wir tun, ist vom Streben nach Ehre getrieben? Wie sehr geht es uns ums Prestige, unser eigenes oder das unserer Organisation? Wo frisieren wir Zahlen nach oben? Wo hängen wir uns gegenseitig Orden um? Wo reden wir einander nach dem Munde, rücken wir uns selbst ins beste Licht? Und wo ist uns die Meinung von Menschen und Öffentlichkeit so wichtig, dass wir eher nach deren Applaus schielen als nach Gottes Wohlgefallen?

Wer sich von Menschenmeinung abhängig macht, wird nicht viel bewirken. Dem Namen Gottes gebührt die Ehre! 

Wie kann die Kirche und unser eigenes Leben reformiert werden? Indem wir unseren Kompass neu ausrichten, Prioritäten neu klären. Am besten fangen wir damit bei uns selbst an. 

Prof. Dr. Dr. Roland Werner (Marburg)

Zum Autor

Prof. Dr. Dr. Roland Werner (Marburg) ist Theologe, Autor, Referent, Gründer des „ChristusTreff“, Vorsitzender von proChrist und Mitglied des Hauptvorstandes der Deutschen Evangelischen Allianz. Bibelzitate sind nach der Übersetzung „dasbuch.NT“ verwendet.