Narren sein für eine Minute

Weshalb die Fragenden das Reich Gottes gewinnen

Wer, wie was, wieso, weshalb, warum“ – nur wenige TV-Intros haben sich stärker in Gehör und Unterbewusstsein ganzer Generationen eingeprägt als diese legendäre Hymne der „Sesamstraße“. Sie verkörperte über Jahrzehnte den Bildungsanspruch des bundesdeutschen Fernsehens gegenüber seiner jüngsten Zuschauergruppe, und hatte Kultstatus. Und natürlich war die Sesamstraße auch östlich der innerdeutschen Grenze ein Begriff – soweit der Westfernsehempfang reichte. „Wer nicht fragt, bleibt dumm!“, sagte der pädagogische Zeigefinger des Titels, was durchaus auch dem Credo ostdeutscher Pädagogik entsprach – wenn auch mit Abstrichen in den strikt vergesellschafteten Angelegenheiten politischen Denkens. Eine bis heute gültige Schlussfolgeung: Nur wer sich auf die Suche macht, kann das Leben entdecken, das sichtbare wie unsichtbare: Stadt, Natur, Wissenschaft – Freundschaft, Liebe, Kunst oder Kultur. Und natürlich einen eigenen Glauben. Unsere Fragen schaffen erst Zugang zur Welt: die unbefangene Neugier eines Kindes, das Hinterfragen durch die nächste Generation, das Streben der Wissenschaften. Die kulturübergreifende Sehnsucht nach Sinn und Bedeutung, nach dem Transzendenten. Menschliche Entwicklung ist individuell wie kollektiv nur zusammen denkbar mit dem immerwährenden Drang nach Erkenntnis, Entdeckungen, der Ergründung des eigenen Seins. Neugierde liegt in unserer Natur. Das lag sie – wenn wir der Erzählung in 1. Mose 2 folgen – schon immer.

Die wirklich wichtigen Fragen des Lebens …

Fragen zu erspüren und zu artikulieren, setzt Sprache voraus. Sprache fasst, schafft und transportiert Bedeutung. Sie ist Katalysator unserer Fähigkeiten zur Reflexion, zur Abstraktion, zur sinnvollen Verknüpfung von Information, zur Rationalisierung von Emotion, kurz: unseres Denkens und Bewusstseins. Ohne das immerwährende Streben menschlichen Geistes gäbe es weder Literatur, Mathematik oder Wissenschaften, keine technische Innovation und natürlich auch keine Religionen, keine Philosophie, keine Ethik. Könnten wir uns den Menschen als Ebenbild eines personalen, schöpferischen Gottes ohne diese unermüdlich investigativen, fragenden, schaffenden Impulse vorstellen? „Wer fragt, ist ein Narr für eine Minute. Wer nicht fragt, ist ein Narr sein Leben lang.“ Dieser (wohl Konfuzius zu verdankende) Satz gefällt mir. Wer in dieser Logik sind Sie und ich? Welche Art von Narr wollen wir, was sollten wir sein? Die wirklich wichtigen Fragen unseres Lebens sind der gedankliche und verbale Schlüsselbund zu den Etagen, Fluren und Räumen unserer Existenz. Sie erst verschaffen uns Zugang zu der komplexen Wirklichkeit, die uns umgibt, zu Familie, sozialem und gesellschaftlichem Umfeld, zum politischen Raum, zu Mechanismen und Folgen der Ökonomie, in der wir leben, zu den Fragen von Leben und Tod. Sie sind kein Selbstzweck, sondern mit ihnen verlassen wir die Komfortzone des Bekannten, Sicheren. Wir entdecken Unbekanntes, Fremdes, Neues. Erst diese Erweiterung unseres Sichtfeldes ermöglicht Orientierung, eröffnet Chancen zum Vergleichen, zu eigenen Werturteilen, zu Zielen und Maßstäben für mein Verhalten, zu Toleranz des anderen. Nebenbei fördert sie die eigene Identität. Dies gilt trotz der – menschlicher Hybris fröhlich spottenden – Einsicht, dass unsere Erkenntnis Stückwerk bleiben muss, wie Paulus im 1. Korintherbrief konstatiert. Fragen öffnen Türen. Sie schaffen Zugänge. Sie ermöglichen Beziehung und Interaktion. Sie bringen uns weiter oder machen uns eigene Grenzen bewusst. Aber manchmal sind Fragen auch unbequem oder schmerzlich – für uns selbst oder für andere. Wir tragen diese oft lange mit uns herum, vermeiden, sie zu stellen. Kritisches Fragen kann Gefahr bedeuten: in autoritär geführten Staaten, in der Konfrontation mit Mächtigen, in ungesunden sozialen oder beruflichen Strukturen.

Auf der Suche nach Wahrheit

Manche unserer Fragen setzen Dinge und Menschen in Bewegung, bringen Prozesse in Gang. In der Apostelgeschichte (8, 26-39) finden wir dafür in der Begegnung von Philippus und dem Kämmerer der äthiopischen Kandake ein spannendes Beispiel: „Der Engel des Herrn redete zu Philippus“ und schickt ihn an einen Ort, der vordergründig wenig verspricht: „auf die Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt und öde ist“. Doch, für den erfahrenen Evangelisten vielleicht weniger überraschend, kreuzt ein Reisender seinen Weg, ein VIP vom äthiopischen Königshof, ein Gast im Heiligen Land, auf seiner persönlichen, spirituellen Suche. Er „war nach Jerusalem gekommen, um anzubeten“. Nun befindet er sich auf dem Heimweg und liest den Propheten Jesaja. Doch er versteht ihn nicht. Seinem Impuls folgend fragt Philippus nach: „Verstehst du auch, was du da liest?“ Christen hören und betrachten diesen Text gern aus der Perspektive des Philippus. Mitsamt seinen spektakulären Details wird das Geschehen zur Matrix für ein „divine appointment“, eine göttlich vorbereitete Situation: ein Mensch auf der Suche nach Wahrheit, offen für das „euangelium“, die gute Nachricht von Jesus Christus. Uns beindruckt ein wenig kalkulierend auch, dass es um einen Menschen mit Einfluss geht, einen potentiellen Multiplikator (dem die Kirchengeschichte rückblickend tatsächlich eine wichtige Rolle für die Gründung der äthiopischen Kirche zuschreibt). Und so staunen wir ehrfürchtig: Hier ist eine Frucht reif, ein Suchender findet Glauben, mit seiner Taufe eine neue Identität, Glück – „er zog aber seine Straße fröhlich“. Ein Stein kommt ins Rollen, der eine Lawine nach sich zieht. Was geschieht hier? Zwei Fragebewegungen treffen aufeinander, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. Die eine ergreift die Initiative. Sie lässt sich ein auf das noch fremde Gegenüber, auf dessen Einladung. Sie knüpft an das ehrliche geistliche Interesse an, das über intellektuelle Neugier hinaus reicht. Die andere Art des Fragens macht sich verletzlich, gesteht das eigene Nichtverstehen, fragt um Rat: „Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet? (…) Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das (…)?“ Alles Weitere wird nur möglich durch die Qualität dieser Begegnung, das vertrauliche Gespräch, dessen Inhalt uns verborgen verbleibt.

Beobachtungen für das Heute

Erstens: „Meine Schafe hören meine Stimme.“ Philippus hört sie und folgt ihr: „Da lief Philippus hin…“ Die Begegnung mit dem Kämmerer kommt keineswegs beiläufig zustande. Eine Kontaktaufnahme ist gefragt. So ist es bis heute. Menschen brauchen oft Menschen, die zu ihnen kommen. Mit einer Haltung des Interesses, der Offenheit, der Achtung. Mit der Bereitschaft, zu hören und die richtigen Fragen zu stellen. Unsere Welt braucht sie ganz dringend: Menschen, die anderen ein Angebot sind und dafür die eigene Schwerkraft überwinden. Menschen mit einer anteilnehmenden Kultur. Liebe Deinen Nächsten, sagt Jesus. Wie Dich selbst. Nicht neu, diese Erkenntnis, aber unvermindert aktuell. Zweite Beobachtung: Philippus tritt durch eine weit geöffnete Tür. Er wird eingeladen. Er darf zum Kämmerer in den Wagen steigen. Dieser spürt Kompetenz in ihm und es kommt zu einem Experteninterview besonderer Art. Mit überzeugender Wirkung. Wesentlich ist: Der Kämmerer fragt Philippus nach seiner Meinung. Erst dies ermöglicht einen echten Dialog zwischen den beiden, einen gemeinsamen Prozess. Hand aufs Herz: Wie oft erwischen wir uns dabei, Fragen zu beantworten, die keiner gestellt hat, aneinander vorbei zu reden, keine gemeinsame Sprache und kein Echo zu finden, jedenfalls nicht das gewünschte. Monologe laufen meist ins Leere, im Privaten ebenso wie im Öffentlichen Raum, besonders im Politischen. Kennzeichen unserer diversen Gesellschaft ist ihr hoher Differenzierungsgrad: Völlig unterschiedliche Milieus treffen aufeinander, eine Art kulturell-babylonisches und natürlich auch echtes Sprachengewirr. Verschiedene Sprachen, verschiedene Deutungsmuster der Welt. Verschiedene Codes zu deren Ver- und Entschlüsselung. Wo und wie finden wir dennoch zueinander? Was sind Aspekte, die Gegensätze überbrücken, die  Anknüpfungspunkte für den Diskurs bieten? Ein Drittes: Der Kämmerer gibt uns ein Beispiel für die Vereinbarkeit von Demut und Größe. Von gesellschaftlich hohem Stand, erkennt er doch seine geistliche Armut. Ihm fehlt etwas Entscheidendes und er gibt das zu. Statt den eigenen Mangel zu kaschieren, wie dies heute oft überlebenswichtig scheint, macht er sich ehrlich: Philippus, ich weiß es nicht, hilf mir! Für eine alles entscheidende Minute wird der Edle zum Narren. Es drängt ihn und er fragt nach. Im Ergebnis erleben wir die Verwandlung eines Mannes, der seine Antworten gefunden hat. Der Schleier vor seinem geistigen Auge ist gefallen. Der Äthiopier hält uns einen Spiegel vor. Wie gehen wir selbst mit unseren eigenen drängenden Fragen um? Mit Lebensthemen, Sehnsüchten, Ängsten, Zorn, Wut oder Trauer? Was machen wir mit unseren Fragen an Gott? Und den Anfragen an unser Umfeld, an Familie, Gemeinde oder Politik? Behalten wir sie für uns? Der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaß hat einmal die meist problematischen Folgen eines solchen „Gefühlsstaus“ thematisiert. Oder nutzen wir Gelegenheiten, sie angemessen zu artikulieren, ihnen auf den Grund zu gehen? Das Private ist bekanntlich auch politisch. Unser persönliches Denken und Erleben hat öffentliche Folgen. Das berichtet die Kirchengeschichte vom Kämmerer – und das gilt auch für uns. Wir bewegen uns in sozialen und gesellschaftlichen Rollen: als Partnerin und Elternteil, als Nachbarin oder Kollege, als Bürgerin und Wähler, Konsumentin und Steuerzahler, Europäerin oder Amerikaner, vielleicht auch als Grüner, Christ- oder Sozialdemokratin. In diesen Rollen färben wir ab auf unser Umfeld, prägen. Und, im konfuzianischen Sinne, wir sind in all diesen Rollen auch immer ein wenig wie Narren. Es fragt sich, ob für eine kritische, besondere Minute oder ein Leben lang. Den Entschluss unseres Mannes aus Äthiopien zu dieser Frage kennen wir. Erinnern wir uns demnächst wieder an ihn.    

Zum Autor

Kai-Uwe Heymann leitet ein Bezirksamt in Berlin und ist Mitglied im Arbeitskreis Politik der Deutschen Evangelischen Allianz.