Zwischen Stärke und Verletzlichkeit

Kersten Rieder setzt persönlich Zeichen: Beim „Walk for Freedom“ gegen Menschenhandel

Millionen von Menschen sind versklavt. Heute noch, im 21. Jahrhundert. Um auf dieses moderne Elend aufmerksam zu machen, organisiert die christliche Kampagne „A21“, die sich weltweit gegen Sklaverei und Menschenhandel einsetzt, jedes Jahr 400 Märsche in 50 Ländern. Und ich mittendrin. Beim „Walk for Freedom“ in Berlin. „Gemeinsam mit jedem Schritt die moderne Sklaverei abschaffen“: Mit diesem Motto veranstaltet die von Christine Caine gegründete Bewegung jährlich die Demonstrations-Märsche in großen Städten rund um den Globus. „A21“ will mehr Aufmerksamkeit auf das Thema lenken. Und das Bewusstsein dafür zu wecken, dass 27 Millionen Menschen – Kinder, Frauen, Männer – in Gefangenschaft leben, zur Arbeit gezwungen werden – das ist ein erster Schritt, um diesen Skandal zu bekämpfen.

Es geht los. Von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, mit hochhackigen Schuhen und „A21“- Schirmen ausgestattet, sammeln sich rund 300 Frauen an diesem grauen Samstagnachmittag im Oktober im Berliner Monbijoupark. Die meisten sind wie ich nicht zum ersten Mal dabei. Wir wissen, was uns erwartet. Der Marsch wird unbequem – doch um Bequemlichkeit geht es hier auch nicht. Wir wissen: Alle unsere Strapazen sind nur ein Bruchteil des Leidens der Opfer, die sich Tag für Tag in unmenschlichen Situationen quälen müssen. Das Gemeinschaftsgefühl ist hoch. Einige Gruppen wärmen sich auf, die Leiter verteilen Schirme – und Klebeband für den Mund. Ein starkes Symbol! Der Marsch läuft stumm ab, im Schweigen durch die Stadt. Wir zeigen damit, dass es Menschen gibt, die keine Stimme haben. Die Männer sammeln sich, sie sind die Ansprechpersonen für Passanten, teilen Flyer und Informationen aus. Die Polizei ist bei der offiziell gemeldeten Demonstration verantwortlich für einen ordentlichen und sicheren Ablauf. Als wir uns in eine Reihe stellen und loslaufen, zeigen wir uns stark und selbstbewusst in der Gruppe. Wir drücken damit eine solidarische Einheit aus, die an etwas Größeres glaubt als nur uns selbst: Wir sind ein Team! Schwestern, Mitstreiterinnen. Der Marsch geht langsam voran. Unser Weg führt uns an der Oranienburgerstraße entlang, durch den Hackeschen Markt, vorbei am Alexanderplatz – an einem Samstagmittag eine sehr belebte Strecke. Zwar sind die Straßen gesperrt, aber das hindert einige Fußgänger nicht, sich an uns vorbei zu drängeln; sie wollen nur von A nach B kommen, selbst wenn dieser Weg durch unsere Reihen führt. Die Konzentration auf die Sache wird dadurch schwieriger. Wir versuchen, die Reihen geschlossen zu halten und nicht zu viele Menschen durchzulassen. Die Aufmerksamkeit richtet sich immer mehr auf uns. Menschen schauen zu, bleiben stehen. Nur ganz wenige schenken uns gar keine Beachtung. Die Herausforderung, gelassen zu bleiben, steigt mit jeder Minute des Marsches. Die Männer unserer Gruppe machen eine gute Arbeit. Selbstbewusst sprechen sie Passanten an, wenn diese stehenbleiben. Die Reaktionen sind unterschiedlich: Betroffenheit. Interesse. Kopfschütteln.  

Unsere Aktion bewegt etwas

Trotzdem werden die Gedanken allmählich schwerfälliger. Das Gefühl der Einsamkeit überfällt einen regelrecht. Vor ein paar Minuten noch waren wir von der Stärke der Gruppe beflügelt. Nun drängelt sich ein Gefühl der Verletzlichkeit immer mehr in den Vordergrund. Zwar bewege ich mich in einer Reihe von vielen, und doch stehe ich auch allein. Diese Erkenntnis spiegelt die Erfahrung vieler Opfer von Menschenhandel. Es ist herzzerreißend.

Am Straßenrand werden Smartphones gezückt. Und plötzlich fragt man sich, auf wie vielen Geräten man wohl zu sehen sein wird. Man wird angestarrt, weil man angestarrt werden darf. Ein merkwürdiges Gefühl. Ich bin froh, einen Schirm zu tragen, so fühle ich mich weniger ausgeliefert.

Es ist ein Erlebnis der Gegensätzlichkeit: Wie kann man als Individuum so unsichtbar sein, bei einem so ausdrucksstarken Marsch? Am Ziel angekommen, verbringen wir zehn Minuten im Stillschweigen. Der Wind weht eisige Tropfen vom Springbrunnen in unsere Richtung. Die Anstrengung des zweistündigen Weges in unbequemen Schuhen macht sich bemerkbar. Dann ist es vorbei und die Anspannung löst sich langsam. Es war ein bewegendes Erlebnis, in all seiner Einfachheit. Um die Emotionen zu verarbeiten, bedarf es einiger Gespräche mit anderen Mitstreiterinnen. Sie schildern ähnliche Erfahrungen: Das Gefühl von Solidarität und Stärke steht im Widerstreit mit dem Erlebnis des Alleinstehens. Es ist unangenehm, so „begafft“ zu werden, ohne sich zu wehren. Und am meisten bewegt uns die Erkenntnis: Es geht beim „Walk of Freedom“ um wirkliche Menschen, die Schlimmes durchleben müssen. Umso wichtiger, dass die Menschlichkeit der Sache immer weiter ins öffentliche Bewusstsein rückt. Und wir sind uns einig: Um das zu bewirken, nehmen wir vorübergehende Unbequemlichkeiten gern in Kauf.

Zum Autor

Kersten Rieder arbeitet mit Uwe Heimowski zusammen im Büro des Politikbeauftragten der Deutschen Evangelischen Allianz in Berlin. Weitere Infos zum Walk for Freedom: www.a21.org.