„Antisemitismus und die Abwehr von Erinnerung bedroht uns alle“

Jüdisches Leben und Antisemitismus in Deutschland: Fragen an den Bundesbeauftragten Felix Klein

Herr Klein, Ihre Stelle wurde 2018 mit dem Koalitionsvertrag der heutigen Bundesregierung neu geschaffen. Warum ist dies jetzt – im Gegensatz zu früheren Regierungen – nötig? Braucht es heute wieder einen solchen Beauftragten?

Felix Klein: Die Benennung eines entsprechenden Beauftragten wurde vom ersten wie auch vom zweiten „Expertenkreis Antisemitismus“ in ihren Berichten gefordert und vom jetzigen Bundestag und der Bundesregierung nun umgesetzt. In historischer Perspektive war Antisemitismus in Deutschland nie verschwunden. Die Berliner Republik ist jetzt politisch so weit, zu seiner Bekämpfung auch entsprechende Strukturen zu schaffen. Das halte ich durchaus für einen Fortschritt.

Sie widmen sich ausdrücklich auch dem Kampf gegen Antisemitismus in Deutschland. Wie stark ist der Antisemitismus Ihrer Einschätzung nach heute in Deutschland ausgeprägt?

Je nach Anlage der Studie ist von 15 bis 20% latent antisemitisch eingestelltem Bevölkerungsanteil auszugehen; in Bezug auf israelbezogenen Antisemitismus sind es sogar etwa 40%.

Beobachten Sie alarmierende Anzeichen? Welche maßgeblichen Beispiele sehen Sie dafür?

Die entgrenzte Echtzeitkommunikation im Internet hat Hassrede befördert. Während antisemitische Parolen früher eher „am Stammtisch“ geäußert wurden, haben sich heute das Publikum und damit der Wirkungskreis antisemitischer Äußerungen durch das Internet und die sozialen Medien enorm erweitert. Gleichzeitig gibt es größere mediale Aufmerksamkeit für antisemitische Übergriffe.

Und sind diese Alarmzeichen in den vergangenen Jahren mehr geworden oder haben sich verdichtet?

Jüdische Menschen fühlen sich zunehmend wieder bedroht, während die Mehrheit der nichtjüdischen Deutschen meint, das Thema sei nicht so wichtig. Dabei hat etwa ein Fünftel unserer Bevölkerung judenfeindliche Einstellungen, quer durch alle Schichten, Religionen und Gruppen.

Wie sehr sehen Sie antisemitische Tendenzen in der Gesellschaft insgesamt verwurzelt? In Medienberichten und Studien war in den vergangenen Monaten davon die Rede, dass Juden in Deutschland als Religionsgemeinschaft am häufigsten angefeindet werden; dass Antisemitismus an Schulen Normalität ist; dass in radikalen Moscheen gegen Juden gehetzt wird oder dass in Fußballstadien Schimpfworte wie „Judensau“ gebräuchlich sind. Können Sie diese Informationen aus Ihrer Arbeit bestätigen – und was sagen sie aus über die Gesellschaft in Deutschland?

Ja – es ist bedrückend, dass viele der heutigen antisemitischen Anfeindungen immer wieder Bezug nehmen auf den Antisemitismus in der NS-Zeit, trotz des grundlegenden Wandels unserer Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten.

Wie wollen und können Sie im Kampf gegen Antisemitismus gegensteuern? Können Sie Beispiele aus der Praxis nennen?

Unsere Arbeit hier ist sehr vielschichtig. Zum einen brauchen wir ein genaueres Bild der Lage, wozu ein neues bundesweites Meldesystem beitragen soll. Damit können wir dann gezielter präventiv vorgehen. Insgesamt ist viel im Bildungsbereich zu tun. Da das aber in der Zuständigkeit der Länder liegt, ist meine Aufgabe hier vor allem Koordination und die Ermöglichung von Austausch. Dazu soll auf meine Initiative eine Bund-Länder-Kommission Antisemitismus eingerichtet werden. Eine erste Gesprächsrunde mit Vertreterinnen und Vertretern aller Bundesländer hat am 18. Februar in Heidelberg stattgefunden.

Würden Sie sagen, dass Menschen in Deutschland ausreichend informiert sind über jüdisches Leben überhaupt?

Hier besteht großer Nachholbedarf, da z.B. in Schulbüchern das Bild jüdischer Menschen vom Holocaust geprägt ist und „normales“ jüdisches Leben, ob im Mittelalter oder heute, kaum vorkommt. Dafür, dass sich das ändert, setze ich mich ein.

Was sollten Menschen nichtjüdischen Glaubens grundlegend wissen über jüdisches Leben und die Glaubenspraxis hierzulande? Und wo finden sich Möglichkeiten, sich zu informieren?

Heutzutage eigentlich überall! Ich empfehle eine einfache Internetrecherche oder den Besuch einer Synagoge oder eines jüdischen Kulturzentrums, die es an vielen Orten in Deutschland gibt. Am besten geeignet sind natürlich persönliche Begegnungen. Dafür gibt es etwa das Programm „Likrat“ des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Sie haben eine „alarmierende Geschichtsvergessenheit“ in Deutschland beklagt. Was bedeutet das an Aufgaben – für Sie als Beauftragten, für Organisationen, für jeden einzelnen Bürger?

Alle Menschen, die in Deutschland leben, tragen eine Verantwortung dafür, die Vergangenheit dieses Landes wach und die Erinnerung an den Holocaust und die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft lebendig zu halten. Das hängt nicht davon ab, wo genau die Großeltern im Nationalsozialismus waren, sondern allein davon, wie wir gemeinsam dieses Land gestalten wollen. Antisemitismus und die Abwehr von Erinnerung bedroht uns alle und unsere pluralistische, demokratische Kultur. Denn mit Gewalt, Ausgrenzung und Abwertung werden nicht nur Andersgläubige und Minderheiten angegriffen, sondern auch die grundlegenden Errungenschaften liberaler Demokratien: die Gleichheit vor dem Gesetz, die Gleichwertigkeit von Religionen und Lebensentwürfen und das Verbot von Diskriminierung. Das ist das Fundament, auf dem unsere Demokratie steht, als Antwort auf die Schrecken des Nationalsozialismus. Wer das versteht, weiß, was für ein kostbares Gut unsere Demokratie ist, das es immer wieder zu verteidigen gilt.

Herr Klein, vielen Dank für die Auskünfte und Informationen!

Die Fragen stellte Jörg Podworny

Das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus...

… wurde 2018 im Bundesinnenministerium angesiedelt. Der Diplomat Felix Klein führt dieses Amt seit dem 1. Mai 2018 aus. Seine Aufgabe ist es, Maßnahmen der Bundesregierung, die den Antisemitismus bekämpfen, ressortübergreifend zu koordinieren. Darüber hinaus soll er Ansprechpartner für jüdische Gruppen und gesellschaftliche Organisationen und Vermittler für die Antisemitismusbekämpfung durch Bund, Länder und Zivilgesellschaft sein.