Jesus, der Jude

Warum unser Bild vom Judentum nicht schief hängen sollte

Die Beschäftigung mit dem Judentum ist eine Angelegenheit für Spezialisten. So höre ich es oft landauf, landab in „normalen“ Kirchen, Gemeinden und Gemeinschaften. Entweder man hat ein besonderes Interesse an der Aufarbeitung deutscher Vergangenheit, eine besondere Liebe zum Land Israel oder man pflegt gern das interreligiöse Gespräch. Aber für den alltäglichen Gemeindealltag ist dieses Thema kaum relevant. Oder?

Unser Bild von den Juden und unser Bild von Jesus

Ich bin in den letzten Jahren immer mehr zu einer anderen Überzeugung gekommen: Zwar liegen mir die genannten Themen alle am Herzen. Aber als Pfarrer im Gemeindedienst und auch Dozent in der theologischen Ausbildung ist mir zunehmend bewusst geworden, wie sehr unser Glaube, unsere Predigten, unsere Bibelauslegung und auch unser Bild von Jesus geprägt und beeinflusst werden von dem Bild, das wir vom Judentum haben – bewusst oder unbewusst. Und dieses Bild ist getrübt durch eine 2.000-jährige Geschichte christlicher, insbesondere deutscher, Judenfeindschaft.

Ein typischer Predigtaufbau

In der Praxis funktioniert es meist so: Wir hören in der Predigt, dass man den Bibeltext nur dann richtig verstehen kann, wenn man den kulturellen und historischen Kontext beachtet. Expertenwissen ist also gefragt: „Es war damals so. Im Judentum dachte man, dass …“ Was folgt, ist oft eine Reihe (vermeintlich) historischer Tatsachen über die jüdische Welt des Neuen Testaments, die der/die Predigende leider oft nur vom Hörensagen, aus Predigten anderer, aus sehr alten deutschen Lehrbüchern oder einem lange zurückliegenden Theologiestudium übernommen hat. Selten werden solche Aussagen durch Nachfrage bei jüdischen Gesprächspartnern, durch Nachschlagen in jüdischen Lexika oder Recherche auf jüdischen Internetseiten überprüft. Der Fakten-Check würde schnell zeigen, wie oft wir mit unseren Beschreibungen „der Juden“ falsch liegen. Im Zeitalter „gefühlter Tatsachen“ und „alternativer Fakten“ wird das als nicht weiter schlimm empfunden. Es dient ja der guten Sache – der besseren Illustration des nun folgenden Evangeliums: In einem zweiten Schritt wird erläutert, wie sehr sich Jesus oder Paulus positiv und radikal von dem dunklen Bild der jüdischen Umwelt abheben:„Jesus war ganz anders“ heißt es, „er durchbricht die Konventionen“. Oder, in den Worten des berühmten deutschen Theologen Adolf von Harnack vor über 100 Jahren: „Paulus zertrümmerte mit dem Kreuz die Religion des Judentums.“

Beliebte Missverständnisse

Einige beliebte Missverständnisse kann man immer wieder hören. Neben vielen kleinen, manchmal tragisch amüsanten Absurditäten sind mir in den vergangenen Jahren vor allem drei weit verbreitete Grundmuster begegnet. Sie sind deshalb so gewichtig, weil sie unsere Evangeliumsverkündigung nachhaltig prägen. Und: Wo unser Bild vom Judentum schief hängt, da wird auch unser Bild von Jesus schief. Und wo unser Bild von Jesus schief hängt, kommt am Ende ein schiefes Evangelium heraus. Aus diesem Grund brennt mir das Thema „Jesus, der Jude“ so unter den Nägeln. Darum bin ich überzeugt, dass es nicht nur für Holocaust-Experten und Israel-Freunde relevant ist, sondern für jeden Christen, vor allem aber für solche mit Leitungs- und Lehrverantwortung. Was sind diese drei Grundmuster?

Das werkgerechte Judentum und das Evangelium vom gnädigen Gott

Diese Grundbotschaft ist schon sehr alt. Prominent wurde sie vor allem in der Reformationszeit. Im Judentum, so sagt man, muss der Mensch (wie in allen Religionen außer unserer) das Heil durch gute Werke und Gesetzesgehorsam verdienen. Der strenge, strafende, zornige Gott des Alten Testaments muss durch fromme Anstrengung besänftigt und zufriedengestellt werden. Daraus ergibt sich die (von Luther prominent formulierte) Kernfrage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ Antwort: Jesus verkündigt diesen gnädigen Gott. Bei ihm zählt Gnade, nicht das Gesetz. Das Heil gibt es umsonst, nicht aufgrund guter Werke. Das, so sagt man, ist auch die Grundbotschaft des Paulus und Neuen Testaments. Das klingt zunächst sehr christlich und bibeltreu. Aber wer einen Schritt zurücktritt, merkt schnell: Die verzerrte Darstellung des Judentums führt zu einem verkürzten Evangelium: Die Botschaft vom gnädigen Gott wird zum Kern des Evangeliums, zum „radikal Neuen“ christlichen Glaubens. Und immer mehr Leute – auch im evangelikalen Kontext – fragen: Wenn es nur um den gnädigen Gott geht, wozu brauchen wir dann noch das Kreuz? Widerspricht der Tod Jesu nicht sogar der Botschaft von einem Gott, der nicht zornig ist, sondern gnädig? Hier hilft der Blick in die jüdische Welt Jesu. Weder war die Botschaft vom gnädigen Gott eine Neuigkeit für jüdische Hörer, noch stimmt es, dass der Gott des Neuen Testaments nicht zornig ist: Wer sich mit Juden unterhält – oder einen Blick in die Bibel wirft –, wird entdecken: Die Botschaft vom gnädigen Gott ist keine Erfindung des Christentums oder Neuen Testaments. Sie durchzieht die Bibel von Anfang an und gehört zu den zentralen Grundüberzeugungen jüdischen Glaubens: Abraham wird aus reiner Gnade erwählt, das Volk Israel aus Gnade aus Ägypten errettet. Zur Vergebung der Schuld hat Gott den großen Versöhnungstag (Jom-ha-Kippurim) angeordnet, an dem ein Sündenbock die Schuld des Volkes trägt. Bis heute ist dieser Tag der wichtigste im jüdischen Kalender. Dass Gott gnädig ist, ist nicht der Kern des Evangeliums. Das wussten Juden schon immer. Weder Jesus noch Paulus hätten für diese Botschaft ihr Leben geben müssen. Das „Evangelium“, die gute neue Botschaft, ist vielmehr das Wort vom Kreuz: Dass dieser gnädige Gott, der sich schon immer in der Bibel zeigte, nun in Jesus selbst die Sünde der Welt trug. Kern des Evangeliums ist nicht, dass es Gnade gibt. Sondern, wo sie zu finden ist.

Das gesetzliche Judentum und das Evangelium von der Freiheit

Ein zweites Grundmuster hat sich erst später entwickelt. Es wurde vor allem seit der Aufklärungzeit populär: Hier stehen Jesus und Paulus für die Freiheit vom Gesetz bzw. von religiöser Gesetzlichkeit. Die Juden müssen herhalten als Beispiel für ein engstirniges, strenges, umbarmherziges Einhalten religiöser Gesetze. Stand beim Missverständnis der Werkgerechtigkeit vor allem Luthers Kampf gegen die katholische Kirche im Hintergrund, so benutzt dieses zweite Missverständnis das verzerrte Bild der Juden dazu, gegen Religion im Allgemeinen und gegen fromme Pietisten im Speziellen vorzugehen. Sie werden dann in Predigten gerne mit Pharisäern und Schriftgelehrten gleichgesetzt. Das Evangelium, das aus diesem antijüdischen Feindbild erwächst, lautet: Durch Jesus wirst du frei von Gesetzen und Geboten. Du musst dich nicht mehr an Regeln halten. (Die gezähmte Fassung dieses Evangeliums lautet: Du musst zwar nicht, aber du darfst – und willst – und wirst ganz von selbst …). Jesus und Paulus werden dann zu Vorbildern des Gesetzesbruchs: Sabbatheilungen, die Berührung von Aussätzigen und Unreinen, gemeinsames Essen mit Heiden und Sündern, Gespräche mit Frauen: Das alles, meint man, war im Judentum undenkbar, verboten. Auch bei dieser Version des Evangeliums ist das Kreuz letztlich überflüssig. Wo man früher glaubte, dass Jesus für uns starb, weil wir Gottes Gebote gebrochen und gegen ihn gesündigt haben, da lautet das neue Evangelium: Es ist nicht schlimm, wenn du Gebote brichst. Das haben Jesus und Paulus auch getan, sogar bewusst. Nicht dass Sünde vergeben wird, ist die gute Botschaft. Sondern dass das, was Religiöse Sünde nennen, in Wirklichkeit keine ist. Auch hier zeigt ein Faktencheck in jüdischen Quellen: Aus einem verzerrten Bild des Judentums entsteht ein verzerrtes Evangelium. Weder das Heilen am Sabbat, noch das Berühren von Unreinen, das Essen mit Heiden oder andere vermeintliche „Gesetzesbrüche“ des Neuen Testaments sind nach jüdischem Gesetz verboten. Jesus heilt nicht am Sabbat, um Gesetze zu brechen, sondern um den Sinn des Sabbats zu erfüllen: ein Vorgeschmack auf die Ewigkeit mitten im Alltag. Der Ärger seiner Gegner entzündet sich nicht daran, dass er das Gesetz bricht. Sondern daran, dass sie ihm keinen Gesetzesbruch nachweisen können. Spricht man heute mit Juden über ihren Gesetzesgehorsam, dann empfinden sie das Gesetz weder als Last noch als Gefängnis. Im Gegenteil: Schon Rabbi Nechunja, ein Zeitgenosse Jesu, lehrte: „Wer das Joch des Gesetzes auf sich nimmt, wird dadurch frei vom Joch anderer Menschen, irdischer Herrscher und Mächte“ (Pirke Avot 3,5). Und schon das erste Gebot macht deutlich, das Gottes Gebote ein Manifest der Befreiung sind (Ex 20,2). Nicht die Freiheit vom Gesetz, sondern die Freiheit vom Urteil des Gesetzes, vom Gesetz der Sünde und des Todes, ist der Kern des neutestamentlichen Evangeliums.

Das exklusive Judentum und das Evangelium vom inklusiven Jesus

In den zurückliegenden Jahrzehnten ist ein neues Zerrbild des Judentums wieder populär geworden: das vom exklusiven, machthungrigen, ausgrenzenden Judentum. Schon in der Antike warfen die Römer den Juden aufgrund ihres Glaubens an die Erwählung vor, von „Hass auf das gesamte Menschengeschlecht“ geprägt zu sein. In modernen Predigten sind die Juden immer öfter die, die andere ausgrenzen: Römer,
Griechen, Samariter, Sünder, Frauen, Kranke, Aussätzige. Damit dienen sie als dankbare Karikatur für heutige Formen der Ausgrenzung: Rassismus, Imperialismus, Sexismus. Jesus dagegen überwindet die jüdischen Strukturen der Ausgrenzung und verkündet ein Evangelium der bedingungslosen Annahme. Auch Paulus wird zum Kämpfer für die Aufhebung aller Unterschiede zwischen Juden und Griechen, Männern und Frauen, Armen und Reichen. Daraus entsteht ein Evangelium, dessen Botschaft die Auflösung der Grenzen und Unterschiede ist. Nun haben sich Jesus und Paulus sicher gegen alle Formen von Ausgrenzung und Machtmissbrauch eingesetzt. Falsch ist allerdings die Behauptung, dass sie sich darin vom Judentum unterschieden: Das Doppelgebot der Liebe, oft als zentrale Botschaft des Christentums gepriesen, ist ein alttestamentliches, und damit auch ein für das Judentum zentrales Gebot. Es wird Jesus sogar von einem jüdischen Gesetzeslehrer als Ausdruck echten jüdischen Glaubens vorgestellt (Luk 10,27). Gleiches gilt für das Gebot der Fremdenliebe. Auch die Einsicht, dass jeder Mensch, unabhängig von Status, Herkunft und Religion, von Gott geschaffen und geliebt ist, ist keine christliche Erfindung. Es ist die Grundbotschaft der Bibel von der ersten Seite an, man kann sie in jeder jüdischen Synagoge hören. Auch hier liegt also nicht der Kern des Evangeliums, so richtig und wichtig diese Botschaft ist. Wenn wir die Annahme aller Menschen zu unserer Kernbotschaft machen, dann vertreten wir zweifellos eine wertvolle jüdische Überzeugung. Die Pointe des Evangeliums ist aber nicht, dass Jesus alle Menschen annimmt. Sondern, dass er sie zu einer Nachfolge aufruft, die ihr Leben verändert. Und dass er sein Leben gibt, um den Mächten von Sünde und Tod eine Grenze zu setzen. Wo wir diese Pointe verschweigen, um nicht anstößig oder ausgrenzend zu wirken, haben wir das Entscheidende verpasst.

Missverständnisse überwinden, Bibeltexte neu lesen

Es gäbe noch viele gute Gründe, sich mit den jüdischen Quellen unseres Glaubens zu beschäftigen: Die beeindruckende Schriftkenntnis jüdischer Bibelausleger. Ihre kreativen und humorvollen Auslegungsweisen. Ihr ernsthaftes Bemühen um ein Leben nach Gottes Willen und einer Gesellschaft, die „heilsam verwandelt wird durch die Königsherrschaft Gottes“ (so das jüdische Aleinu-Gebet). Für mich aber bleibt die Frage nach dem Zentrum entscheidend: Wer ist Jesus und was ist sein Evangelium? Diese Frage können wir nicht beantworten, ohne unsere Vorurteile zu überwinden und intensiv einzutauchen in die jüdische Welt Jesu, in die hinein er sein Evangelium verkündigt hat.

Zum Autor

Dr. Guido Baltes (Marburg) ist Dozent am MBS Bibelseminar und Mitglied im Arbeitskreis Gebet der Deutschen Evangelischen Allianz.

Zum Thema hat er ein gleichnamiges Buch veröffentlicht: „Jesus, der Jude und die Missverständnisse der Christen“ (Verlag der Francke Buchhandlung)