Jesusglaube jüdischer Prägung

Im Gespräch: Der Theologe Hartmut Hühnerbein über Jesus, die Bibel und den Glauben – aus jüdischer Sicht

Herr Hühnerbein, Sie haben aktiv teilgenommen an einer 6-teiligen TV-Gesprächsreihe mit dem messianischen Juden Anatoli Uschomirski1. Was hat Sie daran besonders interessiert?
Ich hab mich immer schon mit der Situation der messianischen Juden beschäftigt, und Anatoli Uschomirski ist ein guter Vermittler und Brückenbauer zwischen messianischen Juden und Christen. Das Thema ist nicht unumstritten in Deutschland. Insofern war ich sehr neugierig auf die Begegnung.

Sie fühlen sich verbunden mit den Juden, sagen „Mein Christsein ist nicht denkbar ohne jüdische Wurzeln“. Hat sich das im Zuge der Gespräche verstärkt?
Ja, natürlich. Man kann als Christ und Theologe nur eine gesamtbiblische Sicht haben – und da gehören das Alte Testament und die Tradition der Juden natürlich mit dazu. Faszinierend in diesen Gesprächen war, dass die Tradition der messianischen Juden mit der Begegnung mit Jesus Christus nicht aufhört: Sie bleiben in ihrer jüdischen Tradition, erkennen aber Jesus als den Messias an.

Der Jude Jesus, die Juden und die Bibel – was ist in diesem Verhältnis für Christen wichtig zu verstehen?
Im Neuen Testament begegnen mir immer wieder Textbezüge, verstärkt im Matthäus-Evangelium, wo eine Rückblende vorgenommen wird auf das Alte Testament, mit Formulierungen wie: „Wie Jesaja …“ oder „Wie die Väter … schon gesagt haben“. Das, was im Alten Testament über den kommenden Messias gesagt wird, das ist in Jesus Christus eingetroffen. Und das ist die Brücke.

Und wohin führt diese Brücke?
Die messianischen Juden sagen völlig zu recht – und können das biblisch belegen –, dass Jesus zuerst für die Juden gekommen ist und dann für den Rest der Welt. Das hat mich veranlasst, Anatoli zu fragen: Muss ich erst Jude werden, um ein richtiger Christ sein zu können? Worauf er geantwortet hat: Nein. Dir fehlt nichts! (lacht)

Kann man zugespitzt formulieren: Die Lücke zwischen messianischen Juden und Christen ist im Grunde sehr klein …?
Das ist nicht so ganz einfach. Nehmen wir das Beispiel Anatoli Uschomirski: Er ist aus der ehemaligen Sowjetunion gekommen. Und in seinem Pass steht als Nationalität „Jude“. Juden sind eine Religionsgemeinschaft; zugleich sind sie eine ethnische Gruppe. Wenn Christen sich fragen: Warum beharren die Juden so auf Traditionen, Festen, Regeln und Ritualen? Dann ist die Antwort: Das ist deren Kultur!
Das war für mich ein Aha-Erlebnis. Die messianischen Juden kommen aus der jüdischen Tradition. Warum sollten sie mit dieser Tradition brechen? Die kulturellen Besonderheiten gehören zu ihnen. Nur sagen sie: Wir sehen in Jesus Christus den Messias. Das heißt aber nicht: Ich breche meine Brücken ab. Auch Paulus spricht ja davon, „den Juden ein Jude“ und „den Heiden ein Heide“ zu sein – man muss sich immer auch auf die Geschichte der Leute einlassen.


Was zeigt, wie aktuell die biblischen Worte auch im 21. Jahrhundert sind. Welche Bibelpassagen sind aus Ihrer Sicht grundlegend, um als Christ den jüdischen Glauben zu begreifen?
Wichtig sind die alttestamentlichen Texte, die ich als „Brückentexte“ bezeichne, in denen es um den kommenden Messias geht. Die klassischen Adventstexte aus dem Jesaja-Buch, die uns begegnen, wenn es um den kommenden Christus geht. Das sind Schlüsseltexte, die letztlich die Brücke bauen zu den neutestamentlichen Texten. Dann bei Matthäus wird alttestamentliche Botschaft reflektiert und bezogen auf Jesus
Christus. Und nochmal: Die messianischen Juden sagen nun, „das, was in den alten Bündniszeugnissen verankert ist, das ist in Jesus eingetroffen“.

Klopfen wir einige wichtige Einzel-Aspekte ab. Uschomirski sagt: „Christen und messianische Juden sind gleichberechtigte Glieder im Leib Christi. Wir brauchen die Gemeinschaft von Juden und Christen.“ Was bedeutet das für Glauben und Gemeindeleben in Deutschland?
Ich habe ein weites ökumenisches Herz – und möchte es mal so fassen: Innerhalb der Baptisten-Gemeinden in Deutschland haben beispielsweise russlanddeutsche Christen ihr ganz eigenes Profil, sie leben viel Tradition und Eigenständigkeit. Und messianische Juden bringen ebenfalls ihre Traditionen mit. So gehören für mich in die Gruppe der Christen in Deutschland, ob Methodisten, Baptisten, Landeskirchler, Freikirchler, selbstverständlich auch die messianischen Juden mit ihrer Tradition und Herkunft mit hinein. Deswegen hab ich auch nie die Diskussionen verstanden, messianische Juden irgendwo nicht zu  berücksichtigen, z.B. bei der Zulassung zum Kirchentag. Hier geht es um Respekt und Achtung und um die Wertschätzung unserer christlichen Wurzeln.

„Wenn Jesus nicht der Messias für die Juden ist, ist er auch kein Christus für die Christen.“ Was bedeutet dieser Satz von Anatoli Uschomirski für das Christ-Sein?
Wenn Jesusu nicht der jüdische Messias ist, dann haben wie Christen ein theologisches Problem. Dies ist ja letztlich die logische Konsequenz. Die messianischen Juden sagen: Jesus Christus ist der erwartete Messias. Und wir haben an diesem Punkt eine große Gemeinsamkeit mit den messianischen Juden. Denn sie vertreten die gleiche Erkenntnis. Die Herausforderung für messianische Juden und Christen ist es, beständig darauf hinzuweisen: Seht euch an, was über den Messias gesagt wird!

Das führt dann weiter: Nach Uschomirskis Überzeugung ist „die Erlösung Jesu, sein Opfertod und seine Auferstehung, die tragfähige Plattform zur Begegnung zwischen Juden und Christen.“
Genau. Die Schlüsselfrage ist die nach der Kreuzigung und Auferstehung. Auf dieser Basis könen Juden und Christen sich auf Augenhöhe begegnen. Genau da fängt der Glaube an: Ist Jesus Christus der Gekreuzigte und Auferstandene für mich? Ist er der Brückenbauer zwischen Gott und Mensch, zwischen mir und Gott? Das ist der Schlüssel. Das Kreuz hat einen vertikalen Balken und weitet meinen Horizont zu Gott; und es hat einen Balken, der zu den Mitmenschen weist – die es für Jesus Christus zu gewinnen gilt.

Das führt unmittelbar zu einem Leitmotiv von Ihnen: „Keiner darf verlorengehen.“ Sind Christen und messianische Juden dabei „Sanitäter“ im gleichen Rettungswerk?
Ja. Wobei die messianischen Juden zunächst ihr „Rettungswerk“ in der Gruppe der Juden haben, so verstehen sie sich. Aber letztlich bringen wir Menschen die Christusbotschaft, weil Christus die Brücke zwischen Mensch und Gott ist. Der Begriff „Sünde“ bezeichnet einen tiefen Abgrund: Auf der einen Seite steht der Mensch und auf der anderen Seite steht Gott. Und Jesus Christus hat diesen Abgrund überwunden. Die messianischen Juden sagen: Jesus hat den Abgrund zwischen Gott und den Juden überwunden, so wie wir Christen das für Gott und Mensch sagen. Insofern sind wir beide rettend unterwegs mit dem gleichen Thema.

Interessant ist der messianische Gedanke der Gerechtigkeit. Als Christen betonen wir: Ich bin gerechtfertigt vor Gott. Bei den messianischen Juden liegt der Akzent auf der Wieder-Herstellung der vollen Gerechtigkeit und Ordnung Gottes. Wie grundlegend ist dieser Unterschied – oder ist das eine nur eine Fortführung aus dem anderen?
Im Judentum wird unter Gottes Gerechtigkeit vor allem seine Bundestreue verstanden. Allein aus Gnade – ist ein altes jüisches Prinzip. Natürlich kann ich mir meine Gerechtigkeit vor Gott nicht verdienen, da sind wir bei Luther: Allein der Glaube, allein die Gnade … schaffen Gerechtigkeit, für mich. Bei den Juden geht es nochmal mehr um die Wiederherstellung des Gottesvolkes. Die Segensformulierungen an Abraham und die Stammväter werden immer auch auf das Volk bezogen. Der Gedanke des „auserwählten Volkes“ spielt bei Juden noch eine größere Rolle. Wobei auch die messianischen Juden sagen: Alles steht und fällt mit meinem persönlichen Glauben.

Im Rückblick: Haben Sie durch die intensive Begegnung Dinge – neu – verstanden?
Theologisch, vom Studium, vom Bibelverständnis her ist das alles intellektuell klar. In der Begegnung mit Anatoli Uschomirski ist mir die jüdische Tradition nun „in Fleisch und Blut“ begegnet. Das ist nochmal was anderes.

Und hat sich etwas geändert in Ihrem Glauben und Leben?
Ich habe durch Anatoli noch eine „andere Brille aufgesetzt“ bekommen, das Volk der Juden zu sehen, die jüdische Tradition, auch die Spannungen, mit denen sie leben, auch innerhalb ihres eigenen Volkes. Wenn ich jetzt einzelne Bibeltexte lese – wenn Jesus etwa zu den Pharisäern spricht –, dann „leuchten“ immer mal „Lampen“ auf, dass ich sage: Ah, das würde ein Jude jetzt anders sehen! So hat sich mein Verständnis
von alt- und neutestamentlichen Texten geweitet.

Vielen Dank für das Gespräch!

Interview: Jörg Podworny

Pfarrer Hartmut Hühnerbein arbeitete fast vier Jahrzehnte im Christlichen Jugenddorfwerk Deutschlands – Die Chancengeber (CJD).
Seit 2013 ist er Vorstandsvorsitzender der Stiftung für Christliche Wertebildung („Wertestarter“).

1) Interessierte können die Gespräche mit Anatoli Uschomirski (ERF-Medien) hier nach-sehen:  watch?v=HzQQ15I-eeY
Literatur: Anatoli Uschomirski, „Hilfe Jesus – ich bin Jude“, SCM-Verlag