Als Christ im Staat verantwortlich leben

Sechs Thesen zum 13. Kapitel des Römerbriefes

In der späten Nachkriegszeit gehörten die Ausführungen des Apostels Paulus über das Verhältnis der Christen zum Staat in Römer 13 zu den heftig diskutierten Passagen des Neuen Testaments. Einerseits wurde gefragt, ob die paulinische Mahnung: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit“, nicht mit schuld daran war, dass es gegen das Unrecht des Nazi-Regimes so wenig Widerstand gab und selbst Christen, die Hitler kritisch gegenüberstanden, meinten, sie seien ihm als gottgegebener Obrigkeit Gehorsam schuldig. Umgekehrt hatte der brandenburgische Bischof und EKD-Ratsvorsitzende Otto Dibelius in seiner Obrigkeitsschrift von 1959 angesichts der Situation in der DDR die These vertreten, dass die Aussage, es gäbe „keine Obrigkeit außer von Gott“ nicht für jedes staatliche System gelte. 

Inzwischen ist die Diskussion darüber ruhiger geworden. Aber immer noch bewegt Christen die Frage: Welches Engagement im Staat und in der Gesellschaft ist von ihnen vom Neuen Testament her gefordert? Was sagt Paulus wirklich darüber?

Dazu einige Thesen aufgrund von Römer 13: 

1. Um Rechtssicherheit zu gewährleisten, braucht menschliche Gemeinschaft eine Ordnung, die die Interessen der Einzelnen oder familiärer Clans übergreift. Darum sieht Paulus staatliche Autorität und ihre Institutionen als Gabe Gottes. Man kann fragen, warum Paulus in Römer 13 nicht zwischen guter und schlechter Ordnung differenziert. Das mag damit zusammenhängen, dass für seinen Blick das römische Imperium mit seiner (relativen!) Rechts- und Friedensordnung fast die ganze bewohnte Welt umfasste. Er hat ja an einigen Stellen das Eingreifen staatlicher Organe als durchaus hilfreich erlebt (vgl. Apg 17,12-17).

2. An und für sich sind für Paulus, wie für Jesus, Rechts- und Gewaltverzicht Konsequenz des Liebesgebotes und Ausdruck des Lebens der Christen als Kontrastbild zu einer vom Egoismus beherrschten Gesellschaft (vgl. Mt 5,38-48; Röm 12,14-21; 1Kor 6,1-11). Aber so zu leben wird schwierig, wenn nicht eine übergreifende Ordnung ein gewisses Maß an Sicherheit vor dem Überhandnehmen gewalttätiger Übergriffe bietet. Das ist ein Grund, warum Paulus an dieser Stelle so ausführlich von der Rolle staatlicher Autorität spricht. 

Offen bleibt die Frage, wie sich diese beiden Bereiche zueinander verhalten. In der frühen Kirche war man der Meinung, es sei gut, dass der Kaiser kein Christ sei, weil er nur so mit der nötigen Gewaltanwendung für Recht, Ordnung und die Sicherheit der Grenzen sorgen könne. Paulus hat nicht darüber reflektiert, wie Christen sich verhalten, die Verantwortung im Staat übernehmen. Müssen sie als Amtsperson nach anderen Vorgaben handeln als in ihrem Leben als Privatperson? So hat das – grob gesprochen – die lutherische Zwei-Reiche-Lehre gesehen. Oder müssen die Christen dann neue Regeln entwickeln, durch die das, was im öffentlichen Bereich notwendig ist, im Geist dessen getan wird, was das Liebesgebot fordert? Die Antwort darauf ist eine wichtige Herausforderung für alle Christen, die sich heute politisch engagieren.

3. Dass Paulus gerade bei den Christen in Rom um Loyalität zu den herrschenden staatlichen Autoritäten wirbt, dürfte auch im Blick auf seine weiteren Pläne zu verstehen sein. Für seine Mission nach Spanien, die ja nur durch die Infrastruktur des Reiches möglich war, suchte er Unterstützer, die – wo nötig – auch mit den Behörden der Hauptstadt zusammenarbeiten konnten. Doch galt das nicht nur für diese besondere Aufgabe. Dass die Gemeinde Jesu Christi notwendigerweise in Widerspruch zu herrschenden Normen der Gesellschaft geraten musste und deshalb „Kontrastgesellschaft“ war, bedeutete nicht, dass sie nur in den Katakomben existieren konnte. Der Gottesdienst im Alltag der Welt fand auch in einer nüchternen und realistischen Einstellung zum Staat statt. Keine Vergötterung, aber auch keine Verteufelung des Staates war angesagt. 

4. Dass jede staatliche Gewalt ihre Autorität von Gott hat, ist zunächst eine grundsätzliche Aussage. Paulus verbindet damit keine Theorie darüber, wie die Repräsentanten der staatlichen Autorität nach Gottes Willen an die Macht kommen sollen. Ob er die Machtergreifung des jungen Nero mit Hilfe einer üblen Palastintrige als Werk Gottes angesehen hat, wissen wir nicht. Wahrscheinlich höchstens indirekt, im Sinne der Überzeugung, dass Gott auch „auf krummen Linien gerade“ schreibt. Seine Ausführungen, dass staatliche Autorität von Gott gewollt ist, sind an keine besondere Staats- und Regierungsform gebunden. Eine erbliche Monarchie ist nicht mehr von „Gottes Gnaden“ als eine Demokratie, die sagt: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Das aber bedeutet auch, dass es neue Formen der Loyalität gegenüber der staatlichen Gewalt geben kann und muss. Solche Loyalität kann auch in Form kritischer Mitarbeit gelebt werden, was zur Zeit des Paulus kaum möglich war, schon gar nicht durch Christen. 

Dennoch wird man mit Paulus sagen können, dass jede Ordnung einer größeren Gemeinschaft von den einzelnen eine gewisse „Unterordnung“ fordert, wenn sie für alle hilfreich sein soll. Die Straßenverkehrsordnung ist ein einfaches, aber überzeugendes Beispiel dafür. Wer nur die Regeln befolgen würde, die er gerade selber einsieht und für hilfreich befindet, würde ein Chaos auslösen. Für uns heute aber gilt auch, dass solche Regeln veränderbar sind, wo sich das als nötig erweist, um das Zusammenleben besser zu gestalten. Sich in den Prozess einzuordnen, in dem gemeinsam nach besseren Regeln gesucht wird, ist die demokratische Variante der Mahnung des Paulus, sich unterzuordnen. 

5. Paulus nennt keine inhaltlichen Einschränkungen für den Anspruch, dass jede staatliche Gewalt von Gott bevollmächtigt ist. Das ist der problematischste Punkt seiner Ausführungen, und er hat zu einer verheerenden Wirkung dieser Aussagen in der Geschichte geführt. Auch ein verbrecherischer Staat, wie das von den Nazis beherrschte Deutschland, schien eine von Gott eingesetzte „Obrigkeit“ zu sein und zu Recht Gehorsam zu beanspruchen. 

Wer aber Römer 13 genau liest, stellt fest, dass Paulus indirekt doch einen klaren Maßstab für die Rechtmäßigkeit einer staatlichen Ordnung gibt. Sie ist dazu da, das Gute zu fördern und dem Bösen zu wehren. Und ohne dass Paulus das ausdrücklich sagt, bleibt klar: Der Staat hat nicht die Definitionsmacht über Gut und Böse. Gut ist nach Gottes Willen nicht das, was dem Staat oder dem Regime nützt. Gut ist das, was dem Leben dient. Daran muss sich jede staatliche Autorität messen lassen. 

6. Für Paulus gehört es auch zur Aufgabe der Christen, ein Ja zum Staat zu finden. Aber dieses Ja hat Grenzen. Es ist an die Bedingung gebunden, dass er seine ihm von Gott übertragene Aufgabe erfüllt. „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“, sagt Petrus in Apg 5,29. Das gilt zunächst dort, wo die Verkündigung des Evangeliums behindert oder gar verboten wird und sich der Staat oder seine Amtsträger an die Stelle Gottes setzen wollen. Es gilt aber auch dort, wo bestimmten Menschen das Lebensrecht abgesprochen wird und wo nicht mehr das Gute gefördert wird. In einem demokratisch verfassten Staat bedeutet das Ja zum Staat also gerade nicht, alles hinzunehmen, was von oben verordnet ist, sondern in Verantwortung vor Gott sich dafür einzusetzen, dass in der Gesellschaft das Gute, das, was Menschen hilft und ihnen gerecht wird, gefördert wird. Und dass dem Bösen, also dem, was Leben zerstört und Menschen erniedrigt und ausgrenzt, gewehrt wird. 

Zum Autor

Walter Klaiber war Bischof der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland. Er lebt in Tübingen.