Zwischen Mythos und Faszination

Von Paulus lernen für die eigene Berufung

Von Tobias Faix 

Früher habe ich Berichte von Missionaren geliebt, von ihrer abenteuerlichen Arbeit in Peru oder Papua Neuguinea. Am meisten fasziniert haben mich ihre außerordentlichen Berufungsgeschichten. Ich wollte auch immer so eine Berufung erleben, aber viel ist nicht passiert. Verändert hat sich aber mein Verständnis von Berufung.

Berufung: Der rote Faden des Lebens

Berufung ist ein vieldeutiger, auch umstrittener Begriff. Die lateinische Übersetzung „vocatio“ bedeutet, dass Gott jemanden für einen bestimmten Dienst oder eine Aufgabe beruft. Der einzelne Mensch mit seiner Biografie, seinen Begabungen und ganzem Sein ist wichtig; darin liegt schon viel von dem, was wir später als Berufung erkennen. Jede Berufung ist einzigartig und wird von verschiedenen Einflüssen geprägt. Durch alle Zeiten gab es Berufungen, aber nicht alle waren gleich. In allen Phasen des Lebens gibt es besondere Fragen, auch an die Berufung. Jede Persönlichkeit spricht auf bestimmte Sprachen der Berufung an. Jede Biografie ist durch das eigene soziale Umfeld geprägt, von der Ursprungsfamilie bis zum jeweiligen Milieu, aus dem man kommt. In all das ruft und wirkt Gott hinein.

Punkt oder Prozess?

Beim Thema Berufung gehören die punktuelle Berufung und die prozesshafte Berufung dazu. Punktuell heißt, es gibt einen genau bestimmten Zeitpunkt, an dem man seine Berufung festmacht – oft ein besonderer, emotionaler Moment oder ein bestimmtes Ereignis, durch das einem die eigene Berufung klar wird. In der Bibel wird dieser Zeitpunkt Kairos genannt und beschreibt ein bestimmtes Handeln Gottes. Viele Menschen wünschen sich so etwas, am besten mit einem klar sichtbaren Zeichen verbunden. Ich glaube, dass es das tatsächlich gibt. Die Gefahr besteht darin, dass man vor lauter Warten auf die perfekte Berufung die eigentliche Berufung verpasst. Diese zeigt sich meist prozesshaft und hat viel mit dem eigenen Leben zu tun. Natürlich kann auch beides zusammenfallen: In einem Berufungsprozess gibt es einen bestimmten Punkt, an dem einem plötzlich klar wird, was die eigene Berufung ist. Ein wichtiger Unterschied liegt auch zwischen der allgemeinen, lebenslangen und der zeitlich begrenzten Berufung. Einige erleben eine Berufung für eine bestimmte Zeit und/oder Aufgabe; auch hier kann beides zusammenfallen.

Gottes Berufung am Beispiel des Paulus

Beispielhaft ist die Berufung des wohl größten Missionars in der Geschichte: Paulus. Sie spielt in der Bibel eine wichtige Rolle. Die Ausführlichkeit und Genauigkeit, mit der Lukas die Perikope erzählt, lässt ihre Wichtigkeit erkennen. Dreimal erscheint die Berufungsgeschichte in der Apostelgeschichte (9,1ff; 22,4ff; 26,9ff), einmal im Galaterbrief (Gal. 1,16f). Einige Male mehr wird sie angedeutet oder erwähnt.

Die Berufung von Paulus ist nicht nur eine verrückte Geschichte, sondern auch voller Ironie: Gott sucht sich seinen größten Verfolger aus, um ihn zu seinem wichtigsten Mann zu machen. Vieles wird auf den Kopf gestellt. Da begegnet einer Jesus und plötzlich ändert sich die Richtung seines Lebens komplett. Der Herrschende muss blind an die Hand genommen werden, wie ein kleines Kind, und der Verfolger wird in Zukunft selbst verfolgt werden und leiden.

Der die Christen verfolgt, braucht sie, damit er wieder sehen kann. Christen, die sich ängstlich versteckt haben, legen ihrem ärgsten Verfolger die Hände zur Heilung auf. Die Bibel ist voller ambivalenter Geschichten. Gott hat definitiv Humor! Auf den ersten Blick könnte man meinen, es war eine 180-Grad-Musterberufung. Schaut man genau hin, ist das nur zum Teil richtig:

Was hat Paulus vor seiner Berufung ausgemacht?

• Er war Theologe und Lehrer (hatte die damaligen besten Lehrer:Gamaliel)

• Er ging strategisch vor (um seine Ziele zu erreichen)

• Er war leidenschaftlicher „Eiferer“ (freute sich sogar über den Tod von Menschen)

• Er nutzte Kontakte und seine Stellung (für die Verfolgung)

Was hat Paulus nach seiner Berufung ausgemacht?

• Er war Theologe und Lehrer (selbst einer der besten Lehrer)

• Er ging strategisch vor (Gemeindebau bis an die Grenzen der damaligen Welt)

• Er war leidenschaftlicher „Eiferer“ (scheute weder Tod noch Leben – wurde verfolgt, gesteinigt und getötet)

• Er nutzte Kontakte und seine Stellung („doppelte Staatsbürgerschaft“)

Die Richtung seiner Arbeit änderte sich, aber Gott nutzte vieles, was Paulus vor seiner Berufung ausmachte, auch nach seiner Berufung.

Lebenslang berufen?

Im Galaterbrief, wo Paulus den Christen erneut seine Berufungsgeschichte erzählt, wird vieles noch einmal zusammengefasst. Paulus erfährt wie alle Menschen eine allgemeine Berufung Gottes schon vor seiner Geburt. Gott hat sich bei jedem etwas gedacht, er ist unser Schöpfer, jeder Mensch ist ihm wichtig, für jeden gibt es ein sinnvolles, gelingendes Leben. Das heißt nicht, dass alles im Leben gut und erfolgreich läuft, es schützt nicht einmal vor Irrwegen. Obwohl Paulus die besten jüdischen Lehrer seiner Zeit hatte, handelte er gegen Gott. Seine Berufung brauchte Zeit und Reife: Erst 14 Jahre nach seinem Berufungserlebnis holte Barnabas ihn zurück nach Jerusalem, wo er per Los ausgewählt wurde und sein großer Missionsdienst begann. Bei allem, was dann passierte, waren seine Persönlichkeit, Identität, Gelehrtheit und seine strategischen Gaben (nur einmal wurde er vom Heiligen Geist an seinen Plänen gehindert) von großer Bedeutung – diesmal aber für Gott, nicht gegen ihn.

Zum Schluss: Das Leben des Paulus war ein gelingendes Leben. Seine Spuren sind bis heute in der weltweiten Kirche deutlich zu sehen. Trotzdem war er nach menschlichen Maßstäben nicht erfolgreich, denn es gab immer wieder Verfolgung, Flucht und den Vorwurf falscher Lehre. Aber er hielt an seiner Berufung fest und ließ sich weder durch großartige Erfolge noch durch scheinbare Niederlagen davon abbringen. Das macht mir Mut meine Berufung zu leben, immer wieder auf Gott und seine Wegweisungen zu hören und innerlich bereit zu sein. Wer weiß, wohin die Reise der Berufung führen wird.

Zum Autor

Tobias Faix lebt seine Berufung als Professor für Praktische Theologie an der CVJM-Hochschule (Kassel), wo er den Master Transformationsstudien: Öffentliche Theologie & Sozialer Arbeit leitet.

Er lebt mit seiner Familie in Marburg.

Literaturtipp: Logbuch Berufung. Navigationshilfen für ein gelingendes Leben. Verlag der Francke Buchhandlung. 2. Auflage 2017.