7-MAL JA ZU EUROPA

Der Einheits-Impuls der Bewegung „Miteinander für Europa“ ist heute wichtiger denn je

Von Gerhard Proß

Europa erlebt eine Erschütterung und eine grundlegende Infragestellung, die vor wenigen Jahren noch nicht denkbar gewesen ist.
In seinem Beitrag skizziert Gerhard Proß, Moderator der Bewegung „Miteinander für Europa (MfE), die Grundlinien und die Hoffnung, die diese geistliche Bewegung in das Europa von heute einbringen möchte:

Schon in seiner Geburtsstunde wurde MfE die Einheit in die Wiege gelegt. MfE ist entstanden am 31.10.1999, im unmittelbaren Zusammenhang mit der gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigung zwischen dem Lutherischen Weltbund und der Katholischen Kirche. Damit ist der Grundauftrag verbunden, der Einheit des Volkes Gottes zu dienen. Wir sind in unserem Einheitsbestreben keinem strategischen Plan gefolgt, sondern waren stets bereit, der „Partitur, die im Himmel geschrieben ist“1 , zu folgen. Bereits die ersten Schritte, die wir geführt wurden, zeigen etwas von der himmlischen Melodie, die wie ein Cantus firmus in verschiedenen Varianten auf dem Weg des MfE erklungen ist. Der erste Schritt war ein bewegender Akt der Versöhnung unter den Konfessionen (März 2000). Der zweite ein Bündnis der gegenseitigen Liebe. Der dritte eine Veränderung unser Haltungen im Blick auf die andere Konfession bzw. den anderen Frömmigkeitsstil. Statt die andere Konfession zu beurteilen (verurteilen) oder sich abzugrenzen, wurde sie als Reichtum erlebt. Wenn jede christliche Gemeinschaft und Bewegung aus einem Impuls des Heiligen Geistes geboren wurde, dann gilt es, das Charisma, die Gnadengabe Gottes im anderen zu entdecken. Dabei war das Zentrum unseres Miteinander von vornherein klar: „Jesus in der Mitte“. Er verbindet uns, Er versöhnt und eint uns. Dabei war es uns von Anfang an wichtig, das Wort Gottes als unsere gemeinsame Basis zu betrachten. Mit diesen Überzeugungen und Grundhaltungen haben wir uns aufgemacht: einander zu besuchen, den Reichtum zu entdecken und durften geradezu ein Pfingstfest erleben.
Heute gehören rund 300 ganz unterschiedliche christliche Gemeinschaften und Bewegungen zum MfE. Wir können nur staunen über die Früchte, die in diesen Jahren reifen durften. Gott hat das MfE in einer Phase der ökumenischen Abkühlung gebraucht, um gewaltige Schritte auf dem Weg zur Einheit zu ermöglichen.

Für Europa

Doch jetzt rückt der zweite Bereich stärker in den Vordergrund: für Europa! Der Impuls zur Einheit wurde uns nicht nur für den kirchlichen Binnenbereich gegeben, sondern wir sind aufgerufen, diesen Impuls auch in unsere Gesellschaft hinein zu tragen und unsere Gesellschaft auf der Grundlage christlicher Werte mitzugestalten. Bei der Großveranstaltung „Miteinander für Europa“ im Mai 2004 mit 10.000 Teilnehmern in der Hanns-Martin-Schleyer Halle in Stuttgart hat dieser Auftrag seinen ersten sichtbaren Ausdruck gefunden. Es ist uns wichtig, an diesem Europa mitzubauen und dabei unseren christlichen Glauben einzubringen. Bei der 2. Großveranstaltung im Mai 2007, ebenfalls in Stuttgart, wurde der Auftrag zur Mitgestaltung unserer Gesellschaft auf der Grundlage christlicher Werte in einem siebenfachen Ja zum Ausdruck gebracht (siehe Kasten S. 15). Uns ist eine Kultur der Einheit anvertraut, die Europa gerade jetzt so dringend braucht. In einer Kultur des MiteinanFoto: Andrew Butler / unsplash.com ders liegt die Zukunft Europas.

Grundüberzeugungen

Einheit ist möglich. Dieser Satz gehört zu den Grundüberzeugungen von MfE. Doch welche Einheit meinen wir? „Einheit und Unterschiedlichkeit sind gleich ursprünglich“3, formulierte Bruder Franziskus beim MfE Kongress 2007. Ganz ähnlich formuliert Piero Coda: „Wenn Gott Dreieinigkeit ist, sind Einheit und Vielfalt nicht nur kein Widerspruch, sondern gleich ursprünglich“4 . Uns hat von Anfang an ein Bild der Einheit bestimmt, das die von Gott geschenkte Vielfalt ausdrücklich anerkennt und bejaht. Die Einheit im Geist ist keine Einebnung von Unterschieden, ist kein „Einheitsbrei“, keine Verschmelzung, sondern Einheit in Vielfalt. Gleichmacherei gefährdet die Identitäten und kann deshalb zum Bruch der Einheit führen. Das gilt für das Politische wie für den kirchlichen Bereich. Zuviel Einheitlichkeit gefährdet die Einheit. Einheit in versöhnter Verschiedenheit. Aufgrund der vielen Brüche im Leben Einzelner, zwischen den Kirchen und zwischen Völkern bedarf es einer Versöhnung der Gegensätze, um zu einer versöhnten Einheit in Vielfalt zu kommen. Versöhnungserfahrungen auf dem Weg des Miteinanders sind für uns prägend. 

Schuld wird ausgesprochen, Vergebung wird zugesprochen und damit eröffnet sich Zukunft, denn das Gift der Vergangenheit verliert seine Wirkung.Das Andersartige und Fremde verliert dadurch seine Bedrohung und wird zur Gabe. Wir erkennen als Versöhnte in der Verschiedenartigkeit den Reichtum des Lebens.

Politisches Lernfeld: Friedensinstrument EU

MfE meint ein Europa, das vom Ural bis Portugal, vom Nordkap bis Sizilien reicht. Aber es war von Anfang an auch ein Ja zur Europäischen Union als einem Instrument des Friedens und der Zukunft. MfE hat keine parteipolitische Ausrichtung. Unter uns leben verschiedene politische Überzeugungen, die z.B. durch die Flüchtlingskrise zum Ausdruck kamen. Wir müssen lernen, auch im Politischen aufeinander zu hören und die gegensätzliche politische Meinung zu verstehen. Respekt vor der Position des anderen ist eine wesentliche Grundlage. Bei aller grundlegenden Bejahung gibt es auch unter uns sehr wesentliche Fragen an die EU, die artikuliert werden müssen und die auch zu Veränderungen führen sollten (EU-Apparat, fehlender Gottesbezug, Freimaurer-Kartelle, ideologische Manipulationen etc.). Trotz mancher Fragen sehen wir in der EU ein einzigartiges Instrument des Friedens. Die Gründerväter sind vor 60 Jahren bewusst auf der Grundlage des christlichen Glaubens Schritte der Versöhnung gegangen, haben die Freundschaft als Schlüssel des Miteinanders erkannt und in der Wirtschaftsgemeinschaft eine Grundlage des Friedens und Wohlstands gelegt.

Die Versöhnung der Gegensätze

Durch die Unterschiedlichkeit der Kulturen und durch eine leidvolle Geschichte sind Gegensätze entstanden, die oft unversöhnt aufeinander treffen. Auf die Versöhnung der Gegensätze kommt es an, z.B. zwischen Ost und West in Europa. Im Osten die Befürchtungen, von einer liberalisierten Wertordnung des Westens überrannt zu werden, die in ihren Augen nicht der christlichen Grundlage entspricht. Und im Westen die Sorge vor Entwicklungen, die die Demokratie und die Freiheit bedrohen. Die Begegnungen, der Dialog und zutiefst die Versöhnung mit der Position des anderen sind wichtig. Es braucht Versöhnung statt Verurteilung.

Unterscheidung der Geister

Bei aller Offenheit für andere politische Überzeugungen ist uns jedoch gleichzeitig die Unterscheidung der Geister aufgetragen. Politisch konträren Haltungen gilt es Raum zu geben, den Ungeistern gilt es zu wehren. Wir sagen Nein zum Nationalismus, zu den Egoismen und zum Populismus.
• In einer Zeit, in der die alten Ungeister, die Europa schon mehrfach in die Katastrophe geführt haben, wieder Urstände feiern, sprechen wir unser Nein zu den Nationalismen und desto klarer unser Ja zu einer Reich-Gottes-Perspektive.
• In einer Zeit, in der die Egoismen Auftrieb erhalten, sprechen wir unser Ja zu einer Kultur der Beziehung, der Bündnisse und der Liebe.
• In einer Zeit, in der der Populismus um sich greift, sprechen wir ein Nein zu aller Vereinfachung und zu platten Lösungen. Wir sprechen unser Ja zur Wahrheit und zur Demut.

Gebet verändert

Zum Auftrag von MfE gehört ganz wesentlich auch das Gebet. Wir wollen nicht nachlassen, für dieses Europa – und konkret auch für die Verantwortlichen in der EU – zu beten. Gebet verändert. Es verändert uns und die Atmosphäre in unserem Land und in Europa. Gebet verändert die Herzen von Menschen. Deshalb laden wir von MfE ein, verstärkt für Europa zu beten. Der jüngste Europatag am 9. Mai und aktuelle Gebetsinitiativen (siehe Homepage www.together4europe.org) waren und sind dafür besondere Möglichkeiten. Ich träume davon, dass ein Gebetsnetz ganz Europa umspannt.

Unsere Ja zu Europa

Es ist unsere Überzeugung, dass es noch nie so wichtig war wie heute, dass wir ein entschiedenes Ja zu einem Europa der Einheit und der Vielfalt der Kulturen und Nationen sprechen. Wir sind überzeugt, dass von Gott veränderte Menschen Europa verändern können. Deshalb setzen wir uns ein für eine Kultur des Miteinanders auf der Grundlage des christlichen Glaubens. Unser Auftrag zur Einheit und unsere Kultur des Miteinanders sind heute wichtiger denn je.

Zum Autor

Gerhard Proß ist langjähriger Leiter des CVJM in Esslingen und Leiter verschiedener Netzwerke wie MfE und des „Treffens von Verantwortlichen“; er trägt Mitverantwortung im Christlichen Convent Deutschland (CCD).