Die Bibel und ihre schwierigen Stellen

Warum Frauen im Neuen Testament zu schweigen hatten – und ob sie es heute immer noch müssen, das untersucht Dr. Armin Baum, Professor für Neues Testament an der Freien Theologischen Hochschule Gießen.

Als Christen befolgen wir nicht einfach die ganze Bibel wörtlich, egal wie bibeltreu wir sind. Das haben auch Martin Luther und die übrigen Reformatoren nicht getan. Denn selbstverständlich halten wir uns nicht an die alttestamentlichen Gesetze des Mose, sondern beschränken uns in der Regel auf das doppelte Liebesgebot und die Zehn Gebote.

Heilige Küsse, erhobene Hände und verbotener Schmuck

Aber wie verhält es sich mit dem Neuen Testament? Halten wir uns an dessen Vorschriften eins zu eins? Wie steht es mit einigen besonders schwierigen Stellen?

  • Die Anweisung, meine christlichen Geschwister mit dem heiligen Kuss zu grüßen (Röm 16,16 u.ö.), habe ich im Frankreichurlaub und während einiger Auslandsjahre in den Niederlanden befolgt. In Deutschland küsse ich aber nur meine Verwandten.
  • Die Anweisung, mit erhobenen Händen zu beten (1 Tim 2,8), befolge ich bis heute nicht. Normalerweise falte ich beim Beten meine Hände. Dadurch unterscheide ich mich von manchen charismatischeren oder jüngeren Mitchristen.
  • Außerdem hält meine Frau sich auch nicht an das Verbot von Haarflechten, Goldschmuck und Perlenketten (1 Tim 2,9). Amische Christinnen nehmen diese Verbote dagegen sehr ernst.
„Die Frauen sollen schweigen“

Für meinen auf den ersten Blick ziemlich willkürlichen Umgang mit diesen schwierigen Stellen gibt es gute Gründe. Die zeigen sich aber erst, wenn man solche Stellen im Rahmen ihrer ursprünglichen Kultur interpretiert. Für das an Frauen gerichtete Gebot, eine Kopfbedeckung zu tragen (1 Kor 11,5-6), habe ich das vor einer Weile getan. Hier will ich kurz skizzieren, wie ich mit einer anderen Stelle umgehe, die noch schwieriger ist als alle bisher angeführten. In seinem 1. Korintherbrief forderte der Apostel Paulus (1 Kor 14,33b-35):

„Wie in allen Gemeinden der Heiligen sollen die Frauen auch in euren Gemeindeversammlungen schweigen. Es ist ihnen nämlich nicht erlaubt zu reden. Vielmehr sollen sie sich unterordnen, wie es auch das Gesetz sagt. Wenn sie aber etwas lernen wollen, so sollen sie zuhause ihre eigenen Männer fragen. Denn es ist nicht ehrenhaft für eine Frau, in der Gemeindeversammlung zu reden.“

Antike Frauen durften keine öffentlichen Reden halten

Um eine solche Aussage richtig zu verstehen, muss man tief in die antike Kultur zur Zeit des Neuen Testaments eintauchen. Denn die Welt des Neuen Testaments war ganz anders als unsere. Eine allgemeine Regel lautete, dass Frauen in der Öffentlichkeit nicht das Wort ergreifen durften. Das öffentliche Reden galt als Aufgabe und Privileg der Männer.

In einem neupythagoreischen Benimmbuch hieß es, „dass es für eine Frau nicht passend ist zu philosophieren, zu reiten und öffentliche Reden zu halten. Dem Mann ist es eigen, öffentliche Reden zu halten“. Auch die jüdischen Theologen waren überzeugt, „dass die Frau nicht zu sprechen hat am Ort des Mannes“. Dementsprechend halten auch in der Apostelgeschichte des Lukas nur Männer öffentliche Reden, vor allem Petrus, Stephanus und Paulus. Genauso ist es in den Evangelien.

Wenn eine Frau sich als Lehrerin betätigen wollte, musste sie es im privaten Rahmen tun. Daher unterrichtete Priszilla (gemeinsam mit ihrem Ehemann Aquila) den Apollos im privaten Raum (Apg 18,26: „sie nahmen ihn zu sich“). Damit hielt sie sich an die kulturelle Regel, dass das öffentliche Reden und Lehren den Männern vorbehalten war.

Paulus erwartete von Christen kultursensibles Verhalten

In Übereinstimmung mit dieser antiken Sitte hat Paulus in 1 Kor 14,33b-35 den weiblichen Mitgliedern seiner Gemeinden Wortbeiträge in öffentlichen Versammlungen grundsätzlich untersagt. Dieses Verbot vertrat er so konsequent, dass er Christinnen sogar verbot, in öffentlichen Zusammenkünften Fragen zu stellen: „Wenn sie etwas lernen wollen, so sollen sie zuhause (d.h. im privaten Raum) ihre eigenen Männer fragen“. (In 1 Kor 11,5 ist Paulus nicht von dieser strengen Linie abgewichen, sondern hat weiblichen Gemeindegliedern lediglich zugestanden, sich mit Wortbeiträgen an privaten Zusammenkünften zu beteiligen.)

Begründet hat Paulus sein öffentliches Redeverbot für Frauen nicht mit theologischen Argumenten, sondern mit dem Hinweis, dass ein solches Verhalten als „schändlich“ bzw. „unehrenhaft“ galt (1 Kor 14,35). Als Begründung verwies er an dieser Stelle auf die geltende Sitte.

Frauen dürfen erst seit 100 Jahren öffentliche Reden halten

Solche kulturellen Regeln können ausgesprochen langlebig sein. Auch zur Zeit Luthers und der Reformation waren Frauen öffentliche Reden verboten. Noch im 18. Jahrhundert standen in deutschen Rhetoriklehrbüchern, der Anstandsliteratur und sogenannten Frauenzimmer-Lexika Regeln, die sich kaum von den antiken unterschieden.

Diese Regeln blieben auch im 19. Jahrhundert gültig. Aus der politischen Öffentlichkeit waren die Frauen bis an die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert weitgehend ausgeschlossen. Frauen besaßen kein passives Wahlrecht. Politische und staatliche Ämter durften nur Männer ausüben.

Demgegenüber hat sich unsere heutige westliche Kultur stark gewandelt. Im Laufe des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts konnten Frauen erreichen, dass sie in der politischen Öffentlichkeit als Akteurinnen zugelassen wurden. Die Emanzipation der Frau am Übergang zum 20. Jahrhundert brachte es auch mit sich, dass Frauen an- fi ngen, öffentliche Reden zu halten.

1918 wurden den Frauen in der Weimarer Verfassung das aktive und das passive Wahlrecht zuerkannt. 1919 hielt die SPD-Politikern Marie Juchacz (1879-1956) als erste Frau eine Rede im Deutschen Reichstag. 1923 wurde die Chemikerin Margarete von Wrangell (1877-1932) die erste ordentliche Professorin an einer deutschen Universität.

Die Entwicklung, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einsetzte, ist heute weitgehend abgeschlossen. Was vor 100 Jahren die Ausnahme war, ist heute zum Normalfall geworden. In unserer Gesellschaft wird allgemein als selbstverständlich anerkannt, dass Frauen genau wie Männer in der Öffentlichkeit das Wort ergreifen. Es gilt im Gegenteil als ungerecht, wenn Frauen das öffentliche Reden verweigert wird.

Bibelauslegung ohne kulturelles Bewusstsein?

Wie sollen wir, wenn wir die Heiligen Schriften als die höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung anerkennen, mit der schwierigen Aussage des Apostels Paulus über das Reden und Schweigen von Frauen in 1 Kor 14,33b-35 umgehen? Bei der Anwendung der apostolischen Aussagen können wir zwei unterschiedliche Wege einschlagen.

Der eine Weg besteht darin, diese Anweisung des Apostels Paulus direkt für die eigene Gegenwart zu übernehmen. So konnte man noch in der Reformationszeit verfahren, weil man im 16. Jahrhundert über das öffentliche Rederecht von Frauen ähnlich dachte wie zur Zeit des Neuen Testaments.

Auch heute könnte man das Redeverbot des Paulus anwenden, ohne den großen Abstand zwischen der antiken und unserer modernen westlichen Kultur in Rechnung zu stellen. Dann dürften Frauen auch heute nur im privaten Raum das Wort ergreifen und müssten im öffentlichen Raum schweigen:

  • Dann dürften Frauen in privaten politischen Diskussionsrunden das Wort ergreifen, aber nicht in Fernsehtalkshows oder auf Parteitagen.
  • Dann dürften Frauen in ihren Privathäusern Schüler unterrichten, aber nicht an öffentlichen Schulen oder Universitäten.
  • Dann dürften Frauen in privaten Hauskreistreffen reden, aber in öffentlichen Gottesdiensten weder ein Gebet sprechen noch eine Lesung vortragen noch ein Zeugnis geben.
Kultursensible Bibelauslegung

Auf dem anderen Weg nehmen wir eine Kontextualisierung der Anweisungen des Apostels vor, indem wir behutsam zwischen ihrem zeitlos gültigen theologischen Kern und ihrer zeitbedingten kulturellen Schale unterscheiden. Mit dieser Methode lässt sich beispielsweise die paulinische Anweisung zur weiblichen Kopfbedeckung ohne ethischen Substanzverlust aus der antiken in unsere moderne Kultur übertragen. Genauso kann man mit den paulinischen Anweisungen zum Schweigen der Frauen verfahren.

Man sollte beachten, dass Paulus nicht gegen das öffentliche Reden von Frauen als solches war, sondern nur, weil es den damaligen Anstandsregeln widersprach. Darum gib es vom 1. Korintherbrief aus keinen Grund, das öffentliche Reden von Frauen in unserer modernen westlichen Gesellschaft in Frage zu stellen:

  • Dann dürfen Frauen auch in Fernsehtalkshows oder auf Parteitagen diskutieren und Reden halten.
  • Dann dürfen Frauen auch an öffentlichen Schulen oder Universitäten lehren.
  • Dann dürfen Frauen auch in öffentlichen Gottesdiensten das Wort ergreifen.
Die Paradieserzählungen als ethischer Maßstab

Aber, könnte man fragen: Gerät bei einem solchen Umgang mit schwierigen Bibelstellen nicht alles ins Rutschen? Lassen sich so nicht sämtliche Anweisungen des Neuen Testaments „wegkontextualisieren“?

Das ist nicht der Fall. Denn die Methode der Kontextualisierung ist nur für Anweisungen bestimmt, die kulturell begründet werden. Bei Anweisungen, die theologisch begründet werden, ist sie fehl am Platz.

Ein tragendes theologisches Argument der ganzen Bibel ist das Liebesgebot. Ein ebenso wichtiges Argument lautet, dass Gott als Schöpfer im Paradies bestimmte Regeln zeit- und kulturübergreifend festgelegt hat. Darum ist der Unterschied zwischen Schöpfung (oder Natur) und Kultur entscheidend. In den Paradieserzählungen gibt es keine Kopftücher, keine Begrüßungsregeln und keine Schmuckvorschriften. Aber in anderen Fragen hat der Schöpfer sich umso klarer festgelegt:

  • Kulturunabhängig gilt die Gottesebenbildlichkeit des Menschen, aus der sich die Menschenwürde und die Menschenrechte ergeben (Gen 1,26a).
  • Kulturunabhängig gilt auch, dass Gott den Menschen als Mann und Frau geschaffen und nur heterosexuell für einander bestimmt hat (Gen 1,26b; vgl. Röm 1,24-27).

Auch dies sind schwierige Bibelstellen. Aber wenn wir sie antasten wollten, würden wir das Gesamtgebäude unserer biblischen Ethik in Frage stellen. Diese Aussagen haben kein Verfallsdatum. An ihnen müssen wir uns gerade in einer gegenläufi gen Kultur bis zum Jüngsten Tag orientieren

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Armin D. Baum

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