Wieso beginnt das Neue Testament im Alten?

Jesus und seiner Kirche ist das Alte Testament wertvoll

Wer das Neue Testament aufschlägt, beginnt in der neuen Lutherbibel auf Seite 1118. Die Herausgeber haben entschieden: Die Seitenzählung beginnt wieder bei 1, obwohl vieles von dem, was davor im Alten Testament steht, fortgesetzt wird und auch im Neuen steckt. Martin Luther hat sich auf der Wartburg nicht nur die Mühe gemacht, das Neue Testament zu übersetzen, auch das Alte Testament war ihm allen Einsatz um jedes einzelne Wort wert. Wie alttestamentlich ist das Neue Testament? „Alt“ bedeutet biblisch gesehen nicht veraltet, überholt, sondern alt-ehrwürdig, kostbar, antik. Alt bedeutet in Bezug auf die Heilige Schrift das erste Wort Gottes an den Menschen, an sein Volk Israel, die ersten Hörer seiner Verheißung und Zusagen.

Wenn Christen Jesus vor Augen haben: Sehen sie ihn auch als Juden? Von der Kindheit Jesu wissen wir wenig, aber eine überlieferte Szene hat sich auch Christen eingeprägt: der 12-jährige Jesus im Tempel. Was tut Jesus im jüdischen TemMax Liebermann: Der zwölfjährige Jesus im Tempel; Skizze zur ersten Fassung Bild: Max Liebermann – Eigenes Werk 10 EiNS September 2017 TITEL-THEMA pel? Lukas berichtet: „Und es geschah nach drei Tagen, dass sie ihn fanden, wie er im Tempel mitten unter den Lehrern saß, ihnen zuhörte und Fragen stellte. Alle aber, die ihn hörten, waren verblüfft über seinen Verstand und seine Antworten“ (Lk 2,46-47). Jesus befindet sich mitten unter den Lehrenden. Dass er herausgehoben steht, im Zentrum, wird nicht gesagt. Das Erste, was von Jesus gesagt wird, ist: Er hört diesen Lehrern zu. Er lernt. Und was er lernt, ist sicher Tora – Weisung Gottes. Als Zweites wird gesagt: Jesus fragt. Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass es rhetorische Fragen eines Lehrers an einen Schüler sind, sondern Jesus will genauer, mehr wissen, Einschätzungen kennenlernen.

Damit verhält sich Jesus als Kind ganz der jüdischen Tradition entsprechend. Da wird über Kindererziehung gesagt: „Mit 5 zur Bibel, mit 10 zur Mischna, mit 13 zum Gebot…“, denn mit 12, 13 Jahren tritt der jüdische Junge bei der Bar Mizwa selbst in den Kreis derjenigen, die sich darauf verpflichten, nach den Geboten zu leben.

Jesus hört, lernt und fragt. Er ist im Gespräch über die Schriften, zweifelsfrei das Alte Testament. Lukas hebt hervor: Sein Schriftenverständnis ist verblüffend. Seine Antworten lassen aufmerken. Jesus lernt schneller und besser als andere. Er wird vom Lernenden zum ebenbürtigen Gesprächspartner. Ein Gespräch von Frage und Antwort, Meinung und Gegenmeinung: der normale Diskurs, die normale Art zu lernen. Jesus: noch nicht Lehrer, aber ein „idealer Toraschüler“. Zu Beginn des Lukasevangeliums fügt sich Jesus auf dem Weg zum Erwachsenwerden in die jüdische Tradition ein, lernt, hört zu, lebt in ihr. Dieses erste Bild von Jesus, als zuhörender, fragender Schüler im jüdischen Tempel entspricht vielleicht nicht christlichen Erwartungen. Die Haltung dahinter aber hat bleibenden Wert: Christen sollten der Bibel aus Altem und Neuem Testament als Hörende, Fragende und als Redende begegnen, die mit anderen ins Gespräch kommen.

Der Evangelist Matthäus gibt eine programmatische Rede Jesu wieder, in der er selbst die unschätzbar hohe Bedeutung der Tora, die Weisung Gottes betont: „Meint nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Nicht um aufzulösen, bin ich gekommen, sondern um zu erfüllen. Denn, Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, soll vom Gesetz nicht ein einziges Jota oder ein einziges Häkchen vergehen, bis alles geschieht. Wer also auch nur eines dieser Gebote auflöst, und sei es das kleinste, und die Menschen so lehrt, der wird der Geringste sein im Himmelreich. Wer aber tut, was das Gebot verlangt, und so lehrt, der wird groß sein im Himmelreich“ (Mt 5,17-19).

Gemeinsame Schatzkammer

Angesichts solcher Worte: Muss man sich nicht als Christ fragen, ob die Tora Bedeutung für den christlichen Glauben haben kann, und wie es dazu kommen konnte, dass Christen in ihrer Geschichte einen Antisemitismus ausbilden konnten, der die Juden als Menschen des Gesetzes diffamierte und sich selbst als Kinder der Freiheit bezeichnete? Freilich ringt ein Christ heute wie Jesus mit den Pharisäern darum, wie ein einzelnes Gebot gemeint ist und in der aktuellen Situation verstanden und angewendet werden kann.

Nach dem Zeugnis der Evangelien antwortet Jesus auf die Frage nach dem wichtigsten Gebot mit der Kombination aus zwei Worten „seiner“ Bibel, aus der Tradition des Alten Testaments (Mk 12,29-31 par.). So ist der Aufruf zur Fremdenliebe nicht erst die vermeintlich „neue“ Ethik Jesu, sondern bereits „Adelstitel des Alten Testaments“ (Albert Schweizer): „Wie ein Einheimischer soll euch der Fremde gelten, der bei euch lebt. Und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten. Ich bin der HERR, euer Gott“ (Lev 19,34). Passend zur Kultur von Viehnomaden wird schon in 2.Mose 23,4-5 praktische Feindesliebe geboten: Wer das Rind oder den Esel seines Feindes verirrt findet, soll es nicht in seine Herde aufnehmen, sondern zum Feind zurückführen. Wenn der Esel des Feindes unter seiner Last zusammenbricht, gilt keine Schadenfreude, sondern gemeinsam mit dem Feind(!) anpacken und aufhelfen.

Das Lukasevangelium zeigt in der Erzählung der Emmausjünger, wie die Christusbotschaft theologisch nur im Rückbezug auf die hebräische Bibel verstanden wird: „Da sagte er zu ihnen: Wie unverständig seid ihr doch und trägen Herzens! Dass ihr nicht glaubt nach allem, was die Propheten gesagt haben! Musste der Gesalbte nicht solches erleiden und so in seine Herrlichkeit eingehen? Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in allen Schriften über ihn steht“ (Lk 24,25- 27). Der auferstandene Jesus „braucht“ das Alte Testament, um von sich zu sprechen …

Die meisten Zitate und Anspielungen im Neuen Testament beziehen sich auf die Psalmen. Die Psalmen sind Atemhilfe des Alten Testaments für das Beten Jesu und das christliche Gebetsleben in Liturgie, Liedgut und persönlicher Frömmigkeit, bis heute. Mit berühmten Worten schreibt Martin Luther 1528 über die Bedeutung der Psalmen für das Gebetsleben: „Wo findet man feinere Worte von Freuden, als die Lobpsalmen oder Dankpsalmen haben? Da siehst du Heiligen ins Herz …“ Der gehaltvolle Reichtum der Psalmworte übersteigt nach Luther die Möglichkeiten anderer Künste wie Malerei und antiker Rhetorik.

Zu Recht nennt Charles H. Spurgeon den Psalter eine „Schatzkammer“. Die Psalmen sind die gemeinsame Schatzkammer von Juden und Christen, die ihr Gebetsleben prägt. Bei den Psalmen bekommt das Beten Weite. Oft macht die Gesamtheit der Schöpfung, der Menschheit und der Geschichte den Horizont aus. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist im Blick. Beim Beten mit den Psalmen lernt der Beter „Ich“ und „Wir“ zu sagen, das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft zu bedenken. Die Themenvielfalt der Psalmen ist nahezu unerschöpflich, so dass die gegenwärtige Psalmenforschung allein hinsichtlich des Menschen Aspekte wie den klagenden, angefeindeten, verfolgten, kranken, vergänglichen, lobpreisenden und begnadeten Menschen entdeckt.

Der Platz reicht hier nicht, um die unschätzbare Bedeutung des Alten für das Neue Testament und seine christlichen Leser auszumalen. Der Glaube an Gott als Schöpfer beispielsweise begründet und entfaltet sich im Alten Testament und wird im Neuen vorausgesetzt. Das alles schmälert nichts an dem unfassbar Neuen im Neuen Testament: Gott wird „Fleisch“ und sendet seinen Sohn. Zugleich dürfen Christen nicht überlesen, dass Gott schon von alters her vielfältig gesprochen hat – und auch heute durch das Alte Testament sprechen will.

Zum Autor

Prof. Dr. Michael Rohde ist Pastor der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Hannover-Walderseestraße