"Die Christenheit in Deutschland braucht eine neue Reformation“

Der Philosoph und Theologe Vishal Mangalwadi über den Einfluss von Bibel und Glaube in der Gesellschaft

Herr Mangalwadi, welche Bedeutung haben die Bibel und der christliche Glaube im 21. Jahrhundert: Gibt der aktuelle Zustand Anlass zur Hoffnung oder zur Sorge?

Da muss ich etwas ausholen. Ende des 19. Jahrhunderts haben die brillanten deutschen Philosophen Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche erkannt, dass die Aufklärung verloren war. Das Vertrauen, dass der menschliche Verstand die Wahrheit erfassen kann, war tot. Der Philosoph René Descartes hatte sich auf die Logik verlassen, um zu beweisen, dass er als Individuum und dass Gott existiert, dass Gut und Böse real sind. Aber Descartes ist gescheitert. Rationalistische Theologen und Philosophen, die weiterhin allein an der menschlichen Vernunft festhielten, scheiterten ebenfalls bei dem Versuch, die Wahrheit zu finden. Es wurde klar, dass Logik und Verstand allein weder das eigene Ich, noch Gott, noch Moral beweisen können. Die Unfähigkeit des Menschen, Wahrheit und Güte allein mit dem Verstand zu entdecken, ließen den Macht- willen, Sex und Geld zu den treibenden Kräften des 20. Jahrhunderts werden. Diese führten zu den großen Kriegs-Katastrophen und der kommunistischen Besatzung in Osteuropa. Im 21. Jahrhundert weiß jeder Schüler, dass seine Lehrer die Wahrheit nicht kennen. Fast täglich behauptet US-Präsident Donald Trump, die Medien seien „Fake-news“, nicht vertrauenswürdig! Die Medien geben das Kompliment zurück: Trump und die meisten Politiker sind Vertreter der Nach-Wahrheits-Zeit – misstrauen Sie dar-um Ihren politischen Führungsfiguren! Die Tatsache, dass der nachchristliche Westen einer „Nach-Wahrheit“ Raum gibt, ist eine äußerst ernste Angelegenheit. Das katastrophale Scheitern der reinen Vernunft eröffnet jedoch die Möglichkeit, im Westen wieder zu Gottes Licht zurückzukehren – der Offenbarung. Die offenbarte Wahrheit hat den heidnischen Westen in der Vergangenheit schon einmal gewonnen, sie kann ihn wie- der gewinnen. Heidentum bedeutet Dunkelheit – und die Dunkelheit wird das Licht nicht überwinden.

Hat der christliche Glaube in Deutschland an Boden verloren – oder gewonnen?

Um diese Frage zu beantworten, gibt es sicher verlässliche statistische Daten. Ich habe das aber nicht ausrei-chend erforscht. Was ich sagen kann: Ich bin zwischen 2014 und 2018 in 40 bis 50 deutschen Städten und Ge-meinden unterwegs gewesen. Und mein Eindruck ist, dass die Menschen sich der Wahrheit öffnen. Viele wol-len begreifen, wer sie als Menschen und als Zivilisation sind. 

Welche Anzeichen sehen Sie dafür?

Die deutsche Theologie hat nach meiner Überzeugung die Seele Deutschlands, ihr Herzstück untergraben: die Bibel nämlich. Ich vertrete demgegenüber eine frische Argumentation für die Bibel. Zwar beschäftigen Theologen sich noch nicht mit meiner Arbeit, aber die Öffentlichkeit nimmt das Wort Gottes warmherzig auf. Was würden Sie aus Ihrer Sicht sagen: An welchem Punkt, in welchen – spirituellen und sozialen – Fragen hätten Christen öffentlich stärker, biblischer und gottbewusster auftreten sollen? Der Bildung kommt in dieser Frage eine grundlegende Bedeutung zu. Nach der Reformation verbreitete die Kirche in Deutschland ihren Segen in aller Welt mit allgemeinen Erziehungs- und biblischen Rechtsprinzipien. Das „allgemeine Priestertum aller Gläubigen“ öffnete den deutschen Geist, denn jeder konnte nun Gottes Wort lesen und es verstehen. Diese Öffnung des Geistes gab den Deutschen ihren Innovationsgeist. Die Bibel brachte eine Gesell-schaft mit starken Familien hervor, in der Väter gute Lehrer waren. Sie vermittelte eine vorbildliche Arbeitsethik und schuf öffentliche Dienstleistungen mit wenig Korruption auch in Regierungsstrukturen. Die moderne Idee von der Gleichheit aller Menschen war eines der bedeutsamsten Ergebnisse der biblischen Lehre des Priestertums aller Gläubigen. Nach Napoleon ließ die Kirche aber die Säkularisierung der Erziehung zu – und damit die Verbreitung einer Weltanschauung, die die Wahrheit nicht kennt. Nun begannen die Blinden die Blinden zu führen, die Gleichheit durch Rassismus ersetzten. Und die Blinden gestalten weiterhin die Zukunft Europas. Es ist traurig: Sie wissen nicht einmal, was männlich und weiblich ist, was Liebe und Ehe bedeuten. Sie berauben die Studenten ihres Rechts, die Standpunkte kennenzulernen, die den Westen so groß, so frei, so stark und so tolerant gemacht haben. 

Welchen Einfluss hat die Bibel nun heute auf Kultur und Gesellschaft? Wie kommt das zum Ausdruck?

Wenn ein Produkt „Made in Germany“ ist, wird das weltweit mit „hoher Qualität, vertrauenswürdig, langlebig“ übersetzt. Das war lange Jahre das wirtschaftliche Ergebnis von Luthers Lehre. Er lehrte, dass Nachlässigkeit bei der Arbeit Diebstahl bedeutet. Ein Kunde muss sich darauf verlassen können, dass Sie bei allem, was Sie tun, Ihr Bes-tes geben. Dieser Charakter, den Gottes Wort in Deutsch-land geschaffen hat, ist nach wie vor einflussreich. Das ändert sich, wenn Gier – und nicht mehr Gott – beginnt, das Herz zu beherrschen.

Was hat sich in diesem Punkt in den letzten Jahrzehnten verändert? Hatte die Bibel in früheren Jahrzehnten mehr Einfluss?

Die europäische Aufklärung hat sich zur Verdunkelung entwickelt. Säkulare Humanisten dachten, dass der Mensch gut ist – und kein Sünder. Sie dachten, dass ein Mann seine Frau ohne Gottes Gebot lieben kann, das sagt: „Ehemänner, liebt eure Frauen – nicht die Frau eures Nachbarn!“ Die Wahrheit ist, dass wir mehr brauchen als Gottes Gebote. Wir brauchen übernatürliche Gnade und Kraft. Wir sind Sünder, unfähig unsere Familien zu erhalten. Wir brauchen Gottes Geist. Die Liebe ist eine Frucht des Heiligen Geistes. 

Ein Großteil der deutschen Theologie hat sich der Torheit der Aufklärung ergeben – die gedacht hat: Weil der Mensch gut war, brauchte er weder einen Retter noch eine göttliche Offenbarung. Tatsache ist, dass der Westen ohne die Bibel nicht einmal die Bedeutung einfacher Begriffe wie „Vater“ verstehen kann! Ohne sie muss man sich darauf beschränken, den Begriff „Vater“ rein biologisch zu definieren – der in wissenschaftlichen Begriffen schlicht einen Mann bezeichnet, der eine Frau schwanger gemacht hat. Ohne die Bibel weiß der Westen nicht, ob nationale Grenzen fest gegeben oder von Menschen künstlich gezogen worden sind.

Die Bibel ist in der Welt die einzige intellektuelle Grundlage für den Glauben an die Gleichheit aller Menschen, ihre einzigartige Würde und unveräußerlichen Rechte.

Wie können Christen und Kirchen heute einen stärkeren Einfluss auf Kultur und Gesellschaft gewinnen? 

Die Christenheit in Deutschland braucht eine neue Reformation. Dabei besteht die allererste Notwendigkeit darin, die „Marke Jesus“ wiederzuerlangen. Das Gesetz kam durch Mose, Gnade und Wahrheit kam durch Jesus. Die Erlösung erfolgt nicht einzig durch Gnade. Es ist auch die Wahrheit, die befreit. Die Rettung erfolgt nicht einzig durch den Glauben. Gott „will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1. Timotheus 2,4). Der Glaube beruht auf der Erkenntnis der Wahrheit, nicht auf Unwissenheit. Luthers „Sola Scriptura“ (Allein die Schrift) bedeutete nie „Nur die Bibel lesen“. Eine neue Reformation kann durch Texte wie Jesaja 53,11 ausgelöst werden: „Durch sein Wissen kann mein gerechter Diener viele andere rechtfertigen.“
Das zweite große Bedürfnis der Kirche in Deutschland ist das Studium der „Königsherrschaft aller Gläubigen“. Jesus erwarb uns mit seinem Blut, um uns zu „Priestern und Königen“ zu machen (Offenbarung 1,6; 2,26-27; 3:21; 5,9-10) Die lutherische Theologie hat das „Priestertum“ aller Gläubigen begriffen, nicht jedoch sein „Königtum“. Deutsche Gläubige nehmen nur sehr ungern das „Joch des Messias auf ihre Schultern“ (Matthäus 11,27-28; Jesaja 9,6-9). Viele in der evangelikalen Christenheit missverstehen Jesu Aussage „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ als „Sein Wille sollte nicht auf Erden geschehen, bis nach seiner Wiederkunft.“ 

Wie kann die Bibel im 21. Jahrhundert – mehr – ins öffentliche Gespräch gebracht werden? 

Ginge es nach mir, müssten Bund und Länder Gesetze verabschieden, wonach die Bibel in öffentlichen Schulen gelehrt wird. Die Bibelübersetzung hat das Schriftdeutsch hervorgebracht. Niemand kann die deutsche Sprache und Literatur, kann Weltanschauung oder Kultur begreifen, wenn er die Bibel nicht versteht. Die jüngeren Generationen ihrer Möglichkeit zu berauben, ihre Vergangenheit zu verstehen, bedeutet, sie ihrer Identität zu berauben. Die Kirche in Deutschland hätte den Einfluss, dem entgegenzuwirken. Sie ist aber geschwächt durch den Irrglauben, dass das Königreich dieser Welt das des Anti-Christen ist.
Auf den Lehr-Kanzeln muss wieder das Vertrauen zurückgewonnen werden, dass Gottes Wort das Licht für unseren Weg und die Lampe für unsere kleinen, täglichen Schritte ist (Psalm 115,105). Zukünftigen Generationen das Licht Gottes zu rauben, bedeutet, sie zu zwingen, sich in der Dunkelheit zu bewegen. Es ist dringend notwendig, die Bibel mit weltweitem Horizont zu studieren und zu lehren, nicht allein „erwecklich“, mit innerer Hingabe.

Wer sich mit diesen Fragen beschäftigt, muss natürlich unterscheiden zwischen den Kontinenten: Für Christen in Europa sind andere Dinge wichtig als für Christen in Afrika, Asien, oder in Nord- und Südamerika …

Ja. Im Großen und Ganzen glauben Asien und Afrika immer noch, dass das übernatürliche Reich – Gott wie auch Dämonen – sprechen kann, denn „das Wort“ – als Gedanken und Sprache – ist vor allem übernatürlich, erst in zweiter Linie chemisch oder biologisch darstellbar.

Die Vorstellung, dass die Materie real ist, aber der Geist nicht für sich selbst existiert, hat das europäische und amerikanische Vertrauen darein geschwächt, dass Gott, der die Wahrheit ist und Wahrheit kennt, zu uns Menschen gesprochen hat. Der Westen muss sein Weltbild überdenken und reformieren. Wie haben den Auftrag, die Nationen „zu Jüngern zu machen“ (Matthäus 28,18-20) – nicht nur Seelen zu retten. Dem Teufel zu erlauben, die Nationen zu täuschen, macht es weitaus schwieriger, einzelne Seelen zu retten.

Vielen Dank für das Gespräch!

Interview: Jörg Podworny, Hans-Joachim Hahn 

Zum Autor

Der indische Gelehrte Vishal Mangalwadi ist Philosoph, Theologe, Autor, Referent, Sozialreformer und Politiker. Das US-Magazin „Christianity Today“ bezeichnet den Autor des wichtigen Werkes „Das Buch der Mitte. Die Bibel als Herzstück der westlichen Kultur“ als den „führenden christlichen Intellektuellen Indiens“. Für EiNS hat sich Mangalwadi den Fragen gestellt, wie Christen und Gemeinden die biblische Botschaft – wieder – stärker in die Gesellschaft einbringen können. 

Mehr zu Vishal Mangalwadi

  • Was Europa heute braucht: Fundamente, (wie die Bibel unsere Kultur erschuf), von Vishal Mangalwadi.
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