Frische Impulse in der Gemeindelandschaft

Mission und Fresh X in Deutschland. Ein Überblick

Warum Fresh X?
Im Land der Reformation nehmen Kenntnis und Praxis christlicher Glaubensinhalte ab. Die Mehrzahl der Menschen fühlt sich der Kirche immer weniger verbunden: Aktuelle Prognosen rechnen im Raum der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bis 2060 mit einer Halbierung der Kirchenmitgliedszahlen. Die Kirchgangs-Studie 2019 der Liturgischen Konferenz belegt, dass der sonntägliche Gottesdienst lediglich von rund 3% der Evangelischen wahrgenommen wird. Mancherorts gibt es erfreuliche Neuaufbrüche. Doch die genannten Zahlen machen ein grundlegendes Vermittlungsproblem deutlich, von dem alle Kirchen und Gemeinden berührt sind. Zugleich differenziert sich unsere Gesellschaft zunehmend aus, in Lebenswelten und Milieus unterschiedlichster kultureller Prägungen. Die drängende Frage ist: Wie können wir als Kirche und Gemeinde heute Menschen mit dem Evangelium erreichen, besonders diejenigen, denen Kirche fremd geworden ist? Die internationale Fresh-Expressions-Bewegung (Fresh X) kann hierzu inspirierende Impulse geben.

Woher kommt der Ansatz?
In Großbritannien haben sich Entkirchlichung und Säkularisation der Gesellschaft noch rasanter entwickelt als hierzulande. Der Soziologe Callum Brown brachte es in seinem Buch „Der Tod des christlichen Großbritannien“ (2001) alarmierend auf den Punkt. Die Kirchen im Vereinigten Königreich haben sich nun neu und konsequent nach neuen Wegen umgesehen, Menschen mit dem Evangelium zu erreichen.
Im Zentrum stand eine Neubesinnung auf den Sendungsauftrag Jesu (Joh 20,21). In den 1970er Jahren begann man mit Gemeindegründungen (Church Planting) in Schulen, Gemeinschaftszentren und anderen öffentlichen Orten. Man versuchte, die Bewegungsrichtung umzukehren: Nicht warten, bis die Menschen zur Kirche kommen, sondern als Kirche dorthin gehen, wo die Menschen sind. Die ersten Neuaufbrüche wurden seitens der Kirchenleitungen zunächst nur geduldet. Einen epochalen Wandel brachte die Generalsynode der Anglikanischen Kirche 2004, in der der Bericht „Mission Shaped Church“ (Deutsche Ausgabe: Mission bringt Gemeinde in Form, 2008) eingebracht wurde. Darin wurden „Fresh Expressions of Church“ (Neue Ausdrucksformen von Kirche) ausdrücklich begrüßt. Aufgrund der unerwartet lebhaften Resonanz auf diesen Bericht entstand eine ökumenisch breit aufgestellte Fresh-X-Bewegung, die gezielt die Entwicklung neuer christlicher Gemeinschaften fördert. Inzwischen gibt es mehr als 3.000 neue Gemeinden unterschiedlichster Prägung (freshexpressions.org.uk).

Was ist daran frisch?
Im Ordinationsgelübde verpflichten sich angehende Geistliche der Anglikanischen Kirche – wörtlich übersetzt – „das Evangelium in jeder Generation frisch (afresh)“ zu verkündigen. Es geht also um mehr als nur „neu“: Frisch steht für lebendig, gegenwartsnah, lebensrelevant und kraftvoll. Fresh-X-Initiativen wollen dies umsetzen, im Hören auf Gott und die Menschen vor Ort. 

Ziel und Aufgabe von Fresh X
Fresh X-Gemeinden haben in aller Unterschiedlichkeit eine gemeinsame Haltung: Sie geht davon aus, dass Gott überall am Werk ist (missio Dei), auch dort, wo Menschen keinen Bezug zu Kirche haben. Deshalb gehen Christen an Orte und in Kontexte, in denen das Evangelium bislang unbekannt war, um zu entdecken, wie Gott hier wirkt und Menschen zusammenbringt. Die Gemeinschaften, die entstehen, ha-ben das Potential eine neue Gestalt von Kirche zu werden – geprägt durch das Evangelium und relevant für ihren kulturellen Kontext, z.B. Initiativen in sozialen Brennpunkten, Jugendgemeinden, Café-Kirchen oder „Kleine christliche Gemeinschaften“ als verbindliche Lebensform. Im 2012 gegründeten Fresh-X-Netzwerk Deutschland heißt es zur Zielrichtung: „Eine Fresh X ist eine neue Form von Gemeinde für unsere sich verändernde Kultur, die primär mit Menschen gegründet wird, die noch keinen Bezug zu Kirche und Gemeinde haben“ (freshexpressions.de). Die entstehenden Formen von Gemeinde sollen die bestehenden nicht ersetzen, sondern ergänzen: In England spricht man von „Mixed Economy“ (Mischwirtschaft) – im deutschsprachigen Kontext von „Kirche in vielfältiger Gestalt“.

Mut machende Initiativen in der deutschen Gemeindelandschaft
Das Fresh-Netzwerk Deutschland hat zwei DVDs mit 33 Beispielen aus verschiedenen Kirchen, Gemeinschaften und Werken veröffentlicht, auf der genannten Website gibt es eine Landkarte mit derzeit 41 Projekten. Ich nenne nur zwei davon: Die „Junge Kirche Treptow“ in Berlin setzt darauf, „gemeinsam zu entdecken, was es heute heißt, unseren Glauben zu leben“ (jkb-treptow.de), mit vielen kreativen Ideen und attraktiven Angeboten. Besonders innovativ zeigt sich die „H3-Kletteranlage“ Metzingen (h3metzingen.de). Rund 10.000 Menschen pro Jahr erleben hier „Kirche anders“, der für den 21. September geplante Extremhindernislauf „MudMates“ findet regional wie überregional lebhafte Resonanz (vgl. S. 10).

Inwieweit ist Fresh X ein Thema für Evangelische Allianz?
Viele Fresh-X-Imitativen in Großbritannien und in Deutschland wer-den von unterschiedlichen kirchlichen „Playern“ gemeinsam verantwortet. Laut Selbstverständnis möchte die Evangelische Allianz „er-mutigen und helfen zu gemeinsamem Gebet und zu gemeinsamen evangelistischen, seelsorgerlichen und diakonischen Aufgaben“ (ead.de). Von daher trifft Fresh X genau das Kernanliegen der Allianz, das Evangelium möglichst umfassend unter die Leute zu bringen. Die missionarische Herausforderung hierzulande ist zu gewaltig, als dass sie von einer Kirche oder Denomination allein wahrgenommen werden könnte.Ausblick: Verlust kirchlicher Vormachtstellung – Wiedergewinn der Mission Gottes?Die Fresh-X-Bewegung in Großbritannien ist mitten in einer erschütternden Krise der Großkirchen entstanden. Gott hat darin Erstaunliches und Ermutigendes wachsen lassen. Martyn Snow, Bischof von Leicester, resümierte am 9. Juli an der Generalsynode der Anglikanischen Kirche: „Könnte es sein, dass die Bewegung der Kirche an den Rand der Gesellschaft eine Bewegung Gottes ist? Könnte es sein, dass das Ende unseres mächtigen Status als Schlüsselinstitution, die das Herz und den Verstand von Millionen von Menschen regiert hatte, die wenig persönliches Wissen über Jesus Christus haben, eine gute Sache ist, die wir annehmen sollten? Fünfzehn Jahre nach dem Bericht ‚Mission Shaped Church‘ ist es richtig, dass wir innehalten, um Gott für diese wirklich wunderbare Bewegung des Heiligen Geistes zu danken. ... Ja, wir sollten die Anfänge der missionarischen Transformation der Kirche feiern.“

Zum Autor

Prof. Achim Härtner M.A. ist Prorektor und lehrt Praktische Theologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen (Evangelisch-methodistische Kirche)