Mehr Miteinander in der Gesellschaft

Aufbrüche: Russlanddeutsche Gemeinden in Deutschland

Neulich bei einem Vortrag über Geschichte und geistliche Entwicklung der Russlanddeutschen in Deutschland fragte mich eine Teilnehmerin: „Wann werden sich die Russlanddeutschen endlich in Deutschland integrieren?“ Ich ahnte, dass nicht nur sie diese Frage gern beantwortet hätte – und sagte: „Die Russlanddeutschen sind seit vielen Jahren die bestintegrierte Migranten-Gruppe in Deutschland.“ Das sagt der Bericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge 2013. Seit über 40 Jahren gibt es „russlanddeutsche Gemeinden“ in Deutschland, doch viele Bundesbürger können mit diesem Begriff nichts anfangen. Sie haben noch nie eine dieser Gemeinden be-sucht und kennen Russlanddeutsche nur durch die üblichen Klischees. In Deutschland leben heute gut 2,5 Mio. Deutsche aus Russland. Die größte Einwanderungswelle fand von 1987 bis 2005 statt, nach-dem der Eiserne Vorhang gefallen war. Pro Jahr kamen bis zu 200.000 Menschen nach Deutschland und starteten unter sehr bescheidenen Umständen. Was viele nicht wissen: 40% aller Russlanddeutschen sind evangelisch, 30% katholisch, nur 20 bis 25% haben einen freikirchlichen Hintergrund. Dennoch fiel diese Gruppe am stärksten auf, gründete neue Gemeinden und errichtete hunderte Kirchengebäude. Heute gibt es über 1.000 freikirchlich geprägte russlanddeutsche Gemeinden (700 baptistisch-mennonitisch geprägt, 250 charismatisch-pfingstlerisch, 100 Gemeinden evangelisch-brüdergemeindlich). In den Sonntagsgottesdiensten kann man von gut 300.000 Besuchern ausgehen (Statistiken gibt es nicht). Größere Gemeinden haben über 1.000 Mitglieder, die meisten Gemeinden mehr Gottesdienstbesucher als Mitglieder. Kinder sind während des Gottesdienstes dabei. Oft gibt es 2 bis 3 Predigten am Sonntagmorgen: eine alte pietistische Tradition, die aus Deutschland nach Russland tradiert wurde. Die stärkste Konzentration freikirchlicher Gemeinden finden wir in Ostwestfalen-Lippe. In Detmold ist auch die größte christliche Privat-schule Deutschlands mit über 3.000 Schülern angesiedelt. Nur einzelne Gemeinden haben sich bestehenden freikirchlichen Verbänden in Deutschland angeschlossen. 50% der anderen Gemeinden sind autonom und autark, die übrigen finden sich in 12 selbstgegründeten Ver-bänden wieder. Der größte (nicht exklusiv russlanddeutsche) Zusammenschluss ist das Forum evangelischer Freikirchen: Über 100 Gemeinden schlossen sich 2011 in einem Netzwerk zusammen, das alle zwei Jahre die „Predigerkonferenz“ in Lemgo mit gut 900 Pastoren und Predigern veranstaltet.Insgesamt ist die russlanddeutsche Bewegung multiplural. Viele exklusive Gemeinden leben stark segregiert in Familien und Gemein-den zusammen und beteiligen sich kaum am mehrheitsgesellschaftlichen Leben. Sie distanzieren sich aus Sorge vor der Verweltlichung der Christenheit in Deutschland. Daneben stehen Konservative, die traditionell und kulturell leben. Sie verstehen sich als ethnoreligiöse Minderheit in Deutschland, sind aber gesellschaftlich integriert und der Mehrheitsgesellschaft gegen-über aufgeschlossen. Die Gruppe der Progressiven ist weitgehend assimiliert und wird kaum als russlanddeutsch wahrgenommen. Die meisten freikirchlichen Gemeinden bekennen sich klar zur Irrtumslosigkeit der Bibel und achten Bibelkenntnis als hohes Gut. Sie sind wertkonservativ, halten an der traditionellen Familie fest und sind stark von gegenseitiger Nachbarschaftshilfe geprägt. Kirchen werden häufig in Eigenleistung errichtet. Das Ehrenamt wird hoch-gehalten, deshalb sind nur wenige Mitarbeiter vollzeitig in der Ge-meinde beschäftigt. Das Bibelseminar Bonn bildet deshalb für den vollzeitigen Dienst, aber auch für das Ehrenamt aus. Für ein Miteinander zwischen Russlanddeutschen und der Mehrheitsgesellschaft wäre mehr Verständnis füreinander hilfreich. Wenn wir in unserer multipluralen Gesellschaft den anderen als Bereicherung wahrnehmen, werden wir Brücken über den garstigen Graben von Kulturen und Traditionen bauen.

Zum Autor

Der Autor, Dr. Heinrich Derksen, ist Leiter des Bibelseminars Bonn und Mitglied im Hauptvorstand der Deutschen Evangelischen Allianz