„Jede Investition in Menschen lohnt sich“

„Seehaus“-Geschäftsführer Tobias Merckle: Verantwortung übernehmen für Menschen, die am Rande stehen

Herr Merckle, seit rund 15 Jahren betreiben Sie und Ihre Mitarbeiter Häuser für Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen am Rande der Gesellschaft stehen. Ihr Motto: Aus der Hoffnung, aus der Sie selber leben, „bauen wir Häuser“. Wie hat sich Ihr „Hausbau“ mit den Jahren entwickelt?
2003 haben wir mit dem Seehaus Leonberg als Alternative zum herkömmlichen Jugendstrafvollzug angefangen. Dort nehmen wir junge Gefangene in Familien auf, da die meisten kein „funktionierendes“ Familienleben kennen. Gleichzeitig sind sie in ein strikt durchstrukturiertes Erziehungsprogramm eingebunden. 2012 haben wir mit Seehaus Störmthal in Sachsen einen zweiten Jugendstrafvollzug in freien Formen aufgebaut. 2014 habe ich dann neben dem Seehaus-Verein noch die Hoffnungsträger Stiftung gegründet. Damit bauen wir „Hoffnungshäuser“ für integratives Wohnen, in denen Flüchtlinge und Einheimische zusammenwohnen und sich gegenseitig unterstützen. Bis Ende des Jahres stehen insgesamt 14 Häuser in Leonberg, Esslingen, Bad Liebenzell, Sinsheim und Schwäbisch Gmünd.

Ihre Arbeit hat sich in anderthalb Jahrzehnten stark ausgeweitet. Kann man daraus Rückschlüsse ziehen auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung?
Das ist schwer zu sagen. Klar ist: Wir brauchen Menschen in der Gesellschaft, die sich engagieren für andere, gerade auch für scheinbar Hoffnungslose, Leute, die am Rande der Gesellschaft sind. Es ist wichtig, dass wir da gerade als Christen auch Verantwortung übernehmen – sei es für Flüchtlinge, für Straffällige oder für Kinder und Jugendliche in Problemvierteln.

Was waren für Sie wesentliche persönliche Impulse, diese Arbeit ins Leben zu rufen?
Ich hatte ein Schlüsselerlebnis: Während meines Sozialen Jahrs bei der christlichen Suchtkrankenhilfe-Organisation „Teen Challenge“ in den USA habe ich jemanden besucht, der zurück musste ins Gefängnis. Dabei habe ich begriffen, was Gefängnisalltag in den USA bedeutet: Man hat hinterher keine Ausbildung, keine Arbeit … gar nichts! Die negative Beeinflussung der Insassen untereinander ist extrem.
Danach habe ich mir gesagt: Das kann’s nicht sein! Das kann man den jungen Menschen nicht antun. Und auch der Gesellschaft nicht. Denn irgendwann kommen sie wieder raus – und sind höchstwahrscheinlich krimineller als vorher.

Weil die kriminelle Energie im Gefängnis noch verstärkt wird?
Genau. Deshalb habe ich beschlossen: Ich möchte eine Alternative zum normalen Strafvollzug aufbauen. Beim Bibellesen wurde mir dann auch klar, dass das Gottes Weg für mich ist, meine Berufung.
Es hat dann noch 13 Jahre gedauert, bis Ihre Vision mit dem Start im Seehaus Wirklichkeit wurde …
Richtig. Ich habe mein Sozialpädagogik-Studium in Deutschland und den USA ganz darauf konzentriert und durch Praktika verschiedenste Projekte kennengelernt. Nach dem Studium kam ich mit der christlichen Gefangenenhilfsorganisation „Prison Fellowship International“ in Kontakt, habe ein Projekt von ihnen in Brasilien besichtigt – und gesehen: Das, was ich mir vorgestellt habe, ist möglich – ein Gefängnis in christlicher Trägerschaft! Das war sehr wertvoll. Auch von anderen Vorbildern konnte ich lernen, der „Gefährdetenhilfe Scheideweg“ etwa. Später habe ich alles zu einem Konzept zusammengefügt – und es dem damaligen baden-württembergischen Justizminister Goll vorgestellt. Er hatte unabhängig davon schon die Idee für solch eine Initiative – und ein Jahr später kam die Ausschreibung für das Projekt. Noch ein Jahr später konnten wir anfangen.

Blickt man auf die Seehaus-Arbeit heute – was ist Ihnen wichtig?
Wir wollen die „Jungs“, wie wir sie nennen, vorbereiten auf ein späteres Leben in der Gesellschaft, ohne Straftaten. Ganz wichtig ist, dass wir mit ihnen eine gute Lebensschule durchlaufen, damit sie vorbereitet sind: auf die Ausbildung, die spätere Arbeit, ein gutes Sozialverhalten. Das Allerwichtigste im Miteinander ist, dass man sich nicht nur um sich selber dreht, sondern immer auch den anderen im Blick hat. Gleichzeitig wollen wir auch den Glauben vorleben und vermitteln.

Was bedeutet das?
Dass wir die Liebe, die wir von Gott empfangen, weitergeben. Und dass das Umfeld merkt: Mir ist Glaube wichtig, die Beziehung zu Gott. Man soll mir im Alltag abspüren, dass ich für andere da bin.

Sie wollen, so Ihr Leitspruch, „investieren in Menschen – investieren in Hoffnung“. Ein zentraler Bestandteil Ihrer Arbeit?
Ja. Wir dürfen als Christen die Hoffnung weitergeben, die wir bekommen haben. Viele haben von zu Hause keine Werte mitbekommen, keine Hoffnung, schon gar keinen Glauben. Darum wollen wir den Menschen bei uns eine Lebensperspektive aufzeigen. Es kostet natürlich etwas, in Menschen zu investieren. Aber jede Investition in Menschen lohnt sich! Gott hat uns die Verantwortung gegeben, dass wir uns für andere einsetzen.

Ein bis zwei Jahre sind die „Jungs“ bei Ihnen. Was wollen Sie ihnen an Werten mitgegeben haben, wenn sie das Seehaus verlassen?
Zum einen, dass sie wertvoll sind, geliebt, dass sie ein Selbstwertgefühl entwickeln. Und sie sollen sehen: Ich hab Gaben, Fähigkeiten, die kann ich anwenden. Am wichtigsten ist: Anderen Menschen mit Liebe und Wertschätzung zu begegnen. Und selbst Verantwortung zu übernehmen. Das wollen wir ihnen mitgeben.

Im Tagesprogramm ist auch Lesen fest vorgesehen. Was lesen sie dann?
In den ersten drei Wochen lesen wir mit den Jungs in der Bibel, damit sie sie kennenlernen. Nach den drei Wochen ist ihnen freigestellt, was sie lesen.

Warum legen Sie so viel Wert auf das Lesen?
Wir denken, es ist gut, die Bibel kennenzulernen und darin zu forschen. Und wir hoffen, wenn man sich morgens Zeit nimmt zur Besinnung, dass man auch etwas mitnimmt für den Tag.

Sie haben die Unterstützung durch die Politik erwähnt. Wie finanziert sich die Seehaus-Arbeit?
Wir bekommen die Tagessätze für den Jugendstrafvollzug in freien Formen, die reichen für die laufenden Kosten. Bei neuen Projekten wie der Opfer- und Trauma-Beratung erhalten wir über Stiftungen Gelder, von „Aktion Mensch“ oder dem „Deutschen Hilfswerk“. Alles Weitere müssen wir über Spenden finanzieren.

Ins Seehaus kommen nur junge Männer – mit welchen Delikten?
Sexualdelikte sind ausgeschlossen – sonst sind querbeet alle Strafdelikte vertreten: Eigentumsdelikte, Körperverletzung, Raub, Erpressung, …

Sie praktizieren eine Alternative zum normalen Strafvollzug im Gefängnis. Stößt das im Umfeld oder auch in christlichen Gemeinden auf ungeteilte Zustimmung?

Nein. Wenn wir sagen, wir wollen hier ein „Seehaus“ eröffnen, stößt man nicht immer nur auf Gegenliebe. Es gibt Nachbarn, die Angst haben. Zum Glück legt sich das sehr schnell, wenn die Leute merken: Das sind keine „Monster“, sondern ganz normale Menschen – die vielleicht sogar freundlicher und zuvorkommender sind als jemand, dem man irgendwo am Bahnhof begegnet. Ganz oft verändert sich zum Glück das Bild: dass hier Leute leben, die zwar Straftaten begangen und anderen geschadet haben – es aber auch Menschen sind, die viel Potenzial haben. In Gemeinden ist prinzipiell eine große Offenheit da. Nur muss man auch sagen: Unsere Jungs in Gemeinden zu integrieren, ist fast unmöglich – weil die Lebenswelten zu unterschiedlich sind.
Die meisten Gemeinden sind gutbürgerlich geprägt. Jemand, der nicht aus der gutbürgerlichen Lebenswelt kommt, kann da nur schwer Fuß fassen. Von daher lautet mein Aufruf an Gemeinden, zu überlegen: Wie können wir uns öffnen für andere Zielgruppen? Wie können wir sie gewinnen, ihnen eine Heimat bieten?

Welche Voraussetzungen sind hilfreich dafür?
Die Menschen müssen merken, dass sie respektiert sind, angenommen. Ich muss ein wirkliches Interesse an ihnen haben. Ich kann nicht erwarten, dass Leute, die keinen Bezug haben zur Kirche, einfach kommen, und wenn sie einmal da waren, automatisch wiederkommen. Ganz wichtig ist, dass man auch zu ihnen geht, sie abholt, dranbleibt, Freizeitaktivitäten gemeinsam unternimmt und sich fragt: Was haben sie für Interessen? Leute, die keinerlei Bezug haben zu Glaube und Kirche, kommen – zumindest erstmal – nicht wegen der Inhalte, sondern wegen der Gemeinschaft; und wegen gemeinsamer Aktivitäten.

Zum zentralen Stichwort „Zeichen setzen“: Wo liegen hier besondere Chancen von Christen und Gemeinden?
Wir dürfen für Menschen da sein, ohne etwas zurückzuerwarten. Wenn wir mit Respekt auf andere zugehen, so dass sie merken: Wir lieben sie als Person und Geschöpf Gottes, sie sind uns wichtig – völlig unabhängig von ihrem Glauben, ihrer Hautfarbe oder Herkunft – dann gibt es unheimlich viele Chancen und Möglichkeiten! Da sind jetzt gerade auch bei Flüchtlingen ganz viele offene Türen da – wenn sie erleben: Wir begegnen ihnen mit Respekt, wir bringen auch ein bisschen Zeit mit und haben echtes Interesse, Beziehungen aufzubauen.

Wenn Gemeinden nun sagen: Hier sehen wir eine Aufgabe, die wir auf unser Herz nehmen wollen – was ist wichtig zu berücksichtigen?
Je nachdem, in welchem Bereich eine Gemeinde eine Arbeit beginnen möchte, gibt es immer hilfreiche Erfahrungen von Menschen und Organisationen; in der Straffälligenhilfe beispielsweise bei der „Gefährdetenhilfe Scheideweg“, beim „Schwarzen Kreuz“ oder auch über das „Seehaus“. Oder mit Blick auf Flüchtlinge bei der „Hoffnungsträger-Stiftung“ oder dem „Arbeitskreis Migration und Integration (AMIN)“ der Evangelischen Allianz. An vielen Stellen bekommt man hilfreiche Tipps. Das Allerwichtigste bleibt aber, dass man überhaupt offen ist – und dann überlegt: Wie können wir uns als Christen in unserer Stadt einbringen? Wie können wir dort „Licht“ sein, biblisch gesprochen, „der Stadt Bestes suchen“? Es gibt mehr als genug zu tun. Wenn jeder mit offenen Augen durch die Welt geht, lässt sich sehr viel bewegen.

Damit haben wir einen weiten Bogen geschlagen. Vielen Dank für das Gespräch!

Info:

Seehaus e.V.

Seehaus ist mit rund 100 Mitarbeitern in den Bereichen Straffälligenhilfe, Opfer- und Flüchtlingshilfe aktiv. Seehaus betreibt Alternativen zum Jugendstrafvollzug (in freien Formen) in Leonberg und Leipzig, verschiedene Opfer- und Trauma-Beratungsstellen, begleitet junge Menschen bei der Ableistung
von gemeinnütziger Arbeit, vermittelt unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Gastfamilien und trägt eine Wohngemeinschaft in Altensteig, bietet Freizeitgruppen im Gefängnis und einen Wald- und Tierkindergarten. (www.seehaus-ev.de)

Hoffnungsträger Stiftung

Menschen in schwierigen Lebenslagen sollen neue Hoffnung bekommen und selbst zu Hoffnungsträgern werden. Die Hoffnungsträger (rund 20 Mitarbeiter) bauen Hoffnungshäuser als integrativen Wohnraum, in dem Flüchtlinge und Deutsche zusammenleben und unterstützen Flüchtlinge bei der Integration. Sie vermitteln Patenschaften für Kinder von Gefangenen in Indien, Sambia, Kolumbien und Kambodscha, unterstützen Projekte in sozialen Brennpunkten und in der Gefangenenarbeit. Gleichzeitig wollensie eine Plattform bieten, um anderen zu helfen, Gutes zu tun. (www.hoffnungstraeger.de)