„Evangelikale sind die größte Debatten-Gemeinschaft der Welt“

Thomas Schirrmacher, neuer Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz, im EiNS-Gespräch

Herr Schirrmacher, als neuer Generalsekretär der zweitgrößten christlichen Vereinigung weltweit: Sind Sie jetzt auf Augenhöhe mit dem Papst?
(lacht) Ja und nein. Dazu muss ich zwei Sachen sagen. Von den Zahlen her hat die katholische Kirche insgesamt etwa 1,2 Milliarden Menschen. Die Weltweite Evangelische Allianz (WEA) vertritt Mitglieder aus Kirchen und Gemeinden, die zu den nationalen Allianzen gehören. Man spricht von rund 600 Millionen. Ich bin der Meinung, diese Zahl ist noch zu niedrig. Und dann kommt der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK), der Weltkirchenrat: Der lag mal bei gut 500 Millionen, aber die aktuellen Mitgliederzahlen gehen nach unten. Von diesen drei großen christlichen Körperschaften weltweit sind wir die zweitgrößte. Aber wir haben zum Glück kein Wettrennen mehr. Wir haben ein gutes Verhältnis. Zur Frage der Augenhöhe: Es liegen alle falsch, die meinen, ich wollte eine Rolle wie der Papst spielen. Wir arbeiten aber als WEA sehr effektiv in unseren Departments, den Arbeitszweigen, die alle eigenständig organisiert sind. Über unsere internationalen Büros sind wir mit mehreren muslimischen Organisationen im Gespräch über Religionsfreiheit. Wir sprechen als WEA überall mit, beim Thema Menschenhandel, bei Flüchtlingen ... haben in allen Bereichen eigene Organisationen.

Wir kommen gleich auf die internationale Rolle der WEA. Zuerst noch zur Wahl: Die Amtszeit Ihres Vorgängers Efraim Tendero lief ab; Sie waren schon sein Stellvertreter. War das sozusagen die natürliche Thronfolge?
Nein, nein! Wir hatten ein Search Comittee, das sich zusammengesetzt hat aus Mitgliedern des Internationalen Rats, der juristisch selbständigen regionalen Allianzen, jungen Leitern usw. Und in diesem Komitee wurde eine Liste aller Kandidatinnen und Kandidaten erstellt, paritätisch, Frauen und Männer, Ältere, Jüngere ... 16 Personen, eine illustre Runde, die alle zu ausführlichen Gesprächsrunden eingeladen waren. Ich hatte vier lange Befragungen mit dieser Kommission, schriftlich und mündlich. Wegen der Pandemie hat sich das Verfahren schließlich über mehrere Monate hingezogen.

Das Komitee hat am Ende einstimmig für Sie gestimmt. Was hat den Ausschlag gegeben?
Ich glaube, das Thema Religionsfreiheit, bei dem ich ja sehr aktiv bin. Das brennt vielen Allianzen unter den Nägeln. Und dann spielt bei mir natürlich die Theologie eine große Rolle. Die Leute wissen, was sie mit mir kriegen. (lacht)

Werden Sie denn als Generalsekretär im beschaulichen Bonn wohnen bleiben?
(lacht) Ja. Auch deswegen, weil der Internationale Rat schon vor Jahren eine Dezentralisierung beschlossen hat. Oft sind die Zentralen mit der jeweiligen regionalen Allianz verbunden. Die Europäische Evangelische Allianz hat ihren administrativen Sitz hier in Bonn. So ähnlich ist es in Manila, mit der Asiatischen Evangelischen Allianz. Die gesamte Medien- und Kommunikationsabteilung der WEA sitzt in New York, wurde bisher von Manila aus geleitet. Von daher ist es für den Alltag kein großer Unterschied, wo auf der Welt das Büro des Generalsekretärs ist.

Wie wird sich Ihr persönlicher Radius in den nächsten Jahren verändern?
Ich bin 2018 in ungefähr 50 Länder gereist, 2019 in 55 Länder. Anfang 2020 wollte ich zwei Sabbatmonate einlegen und mal nicht auf Achse sein. Dann kam das Virus.Jetzt kommt natürlich eine neue Phase. Ich muss für die Leitungs-Aufgaben verfügbar sein und kann nicht mehr inkognito reisen. Bisher bin ich häufig „unterm Radar“ gereist, habe Länder besucht, mich am Flughafen mit Leuten getroffen und war dann wieder weg. Manchmal war ich mit einer Kommission vom Weltkirchenrat dort, habe offizielle Kirchen besucht und auch Hausgemeinden. Das ist jetzt alles nicht mehr möglich. Aber ich werde, sobald man wieder reisen kann, auch wieder unterwegs sein – in weniger Ländern als bisher, dafür aber intensiver beraten und vorbereitet.

Ist die WEA eigentlich eher ein Tanker oder mehr ein Schnellboot? Eine Frage der Steuerung ...
Ich würde es so sagen: Der Vatikan und der ÖRK, das sind zwei Tanker. Im Vergleich dazu sind wir ein Schnellboot. Sämtliche Änderungen, die nicht in theologische Grundsatzfragen eingreifen, gehen bei uns mit „Highspeed“. Aktuelles Beispiel: Das Corona-Virus war im Frühjahr 2020 noch nicht so stark verbreitet – da hatten wir schon umgestellt auf eine virtuelle Wahl des Generalsekretärs. Wir verfügen über schnell arbeitende Organisationen und Strukturen. Über „Advocates International“ zum Beispiel steht eine internationale Anwaltsvereinigung mit rund 3.000 Anwälten in allen möglichen Ländern schnell bereit, wenn es um Rechtsfragen oder die Vertretung vor Gericht geht.

Bleiben wir bei dem Thema: Sie haben erwähnt, dass die Stimme und Expertise der Evangelischen Allianz international gefragt sind. Was kann die WEA bewirken?
Es ist richtig, wir werden bei der UN gehört, auch bei anderen übernationalen Körperschaf-ten. Das hat einmal damit zu tun, dass wir reale Menschen motivieren und – junge – Leute begeistern können, etwa über Facebook-Gruppen oder andere Social-Media-Kanäle.Zweitens hat sich eines in den letzten zehn Jahren entscheidend entwickelt: Unter den 600 und mehr Millionen Evangelikalen gibt es heute viele Weltklasse-Experten, die keinen Vergleich scheuen müssen. Ob in Medizin, in Klimafragen, eigentlich allen Bereichen: Irgendwo gibt es immer jemanden, der sich als wirklicher Fachmann auskennt. Früher war lange Zeit das Problem, dass auch engagierte evangelikale Pastoren oder Organisationen eben nicht mit der UN oder anderen Organisationen zusammenarbeiten konnten. Auch wenn die gern auf eine große religiöse Gruppe zurückgegriffen hätten: Am Ende wollen sie, beispielsweise zum Klimawandel, auch jemanden, der dazu was sagen kann.In unserem Menschenrechtsbüro in Genf arbeiten ausschließlich studierte Menschenrechtsanwälte, Topjuristen, alle ziemlich jung. Das hat mit einer weltweiten Entwicklung zu tun: Heutzutage schicken evangelikale Eltern mit Begeisterung ihre Kinder an die Uni, weil sie sagen, die können dann nicht nur gut Geld verdienen, sondern auch was fürs Reich Gottes tun. Diese junge Entwicklung kommt uns zugute.

Blickt man allein auf die Evangelische Allianz in Deutschland, wird klar, dass da unterschiedliche Strömungen, Prägungen und Hintergründe zusammenkommen und die Positionen nicht immer einheitlich sind. Man muss kein Prophet sein, um zu sagen: Bei der WEA ist das noch mal in potenzierter Form so. Wie tickt sie?
Punkt 1: Die Evangelische Allianz war so divers, wie sie heute ist, wenn nicht noch diverser, seit ihrem Start. Manche erwecken den Eindruck, als wenn Evangelikale sich 1846 in allem einig waren und wir hätten da heute erst ein Problem. Der Gedanke der Allianz war immer, dass unter allen Unterschieden die persönliche Hinwendung zu Jesus das Wesentliche ist. Diese DNA ist heute noch da – und zwar nie von selbst. Ich sage immer: Die Evangelikalen sind die größte Debatten-Gemeinschaft der Welt; und sie muss sich jeden Tag neu diese Gemeinsamkeit erkämpfen.In der Satzung der Evangelischen Allianz von 1846 stand, dass die Heilige Schrift der oberste Maßstab für Glaube und Leben ist. Jeder Christ ist danach verpflichtet, selbst die Heilige Schrift zu lesen und zu beurteilen. Wenn ich als promovierter Mensch in einer Gemeinde eine Predigt halte, kann es gut sein, dass hinterher eine alte Dame zu mir kommt und sagt: In meiner Bibel steht das aber ganz anders, und sie sagt das ohne – in Anführungsstrichen – Respekt. An anderer Stelle wird in Hauskreisen manchmal derart diskutiert, dass man sich fragt: Wird das der Bibel gerecht – wenn jeder praktisch das erstbeste sagt, was ihm zu einem Bibelvers einfällt? Man rauft sich dann die Haare. Aber das sind wir halt.
Punkt 2: Daraus entsteht eine Bewegung, die insgesamt theologisch konservativ und verhältnismäßig stabil ist und in der die theologischen Gemeinsamkeiten die in anderen Kirchenverbänden weit übersteigt. Meine Erfahrung ist: Wenn alle es wollen, mit der Bibel in der Hand, dann ist Einheit möglich. Aber es passiert nicht von selbst. Wir müssen es wollen.

Zum Schluss ein Blick nach vorn: Was sehen Sie für die WEA in den kommenden Jahren an geistlichen und gesellschaftlichen Herau  forderungen?
Auf der geistlichen Seite sehe ich zunächst das, was man auf Englisch „Biblical Illiteracy“ nennt: einen biblischen Analphabetismus. Ein ganz zentraler Faktor sind die vielen Neubekehrten. Wir haben in den vergangenen Jahren einen Zuwachs an Christen in einem Tempo, bei dem keiner mehr nachkommt. In der islamischen Welt geht das so richtig los. Wir haben vor zwei Jahren angefangen, weltweit evangelikale Pastoren zu identifizieren, die entweder nicht lesen und schreiben können oder die keine Bibel haben – oder zwar eine Bibel, aber nie eine Ausbildung bekommen haben. Wir schätzen die Zahl auf drei Millionen Pastoren, die eine mitunter wachsende Gemeinde leiten, denen aber jede biblische Vorkenntnis fehlt. Dafür haben wir ein Basisprogramm aufgestellt mit 20 Grundkursen, die man in X Variationen für jeden Kirchen-verband, jede Gemeinde, jedes Missionswerk quer über den Globus anbieten kann, um Pastoren zu schulen. Nach den 20 Kursen kriegt jeder ein Zertifikat von der WEA.Auf der anderen Seite gibt es viele junge Leute hier bei uns, in Deutschland und Europa, die sich neu bekehren; aber auch die, die in einer christlichen Familie aufwachsen. Da sind die Strukturen, um die Bibel kennenzulernen, wie es sie in der Vergangenheit gab, einfach nicht mehr da. Diese jungen Christen brauchen gute, attraktive Programme, über soziale Medien, die Bibel im Internet, über Chatfunktionen. Die Angebote wollen wir weiter ausbauen, um sie zurückzugewinnen, damit das Bibellesen nicht total verschwindet und Glaube und Bibel im Zentrum bleiben.

Das waren geistliche Herausforderungen. Welches sind die gesellschaftlichen?
Da ist mir wichtig zu vermitteln, dass für uns Evangelikale eigentlich alles zu tun hat mit der Aufforderung Jesu aus Matthäus 28, „alles zu halten, was ich euch befohlen habe“. Wenn ich an die globale Armut denke ... also wenn ich zu irgendetwas aufgerufen bin in der Bibel, dann, mich um die Armen zu kümmern. Zum Stichwort Klimawandel: Am Anfang der Bibel steht, dass Gott den Menschen in diese Welt gesetzt hat, um sie zu bewahren und nicht kaputtzumachen.Schließlich: Was sind die brennendsten Weltprobleme? Da würde ich sagen: Die 17 „SDG“-Ziele (Sustainable Development Goals) der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung beschreiben im politischen Bereich am besten, was dazu zu sagen ist. Nehmen wir das Beispiel der Versorgung, das Recht aller Menschen auf sauberes Trinkwasser. Ohne Trinkwasser für alle gibt es auch die anderen 16 Ziele nicht. Wenn die Menschen nichts mehr zu trinken haben, brauche ich mich über Gleichberechtigung gar nicht mehr aufzuregen. Das Menschenrecht auf Trinkwasser ist das ureigenste Menschenrecht. Gott selbst hat uns so gemacht, dass wir ohne Wasser nicht leben können. Der Zugang zu sauberem Wasser ist ein zentrales Element der Menschenwürde.Die UN-Ziele beschreiben die Herausforderungen sehr gut. Und für mich ist es eine vorrangige Aufgabe, dass wir uns einklinken. Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich halte die 17 Ziele nicht für einen Anhang zur Bibel. Sie kommen aber dem, was wir als Christen in dieser Welt wollen, sehr nah. Ich bezweifele, dass wir im Bereich der Politik mit allen Menschen guten Willens viel Besseres erreichen können. Da die Hand auszustrecken und zu sagen: Wir machen bei diesen Zielen mit, wo immer wir gebraucht haben, das halte ich für den richtigen Weg.
Vielen Dank für das Gespräch!