Einheit – ein schwieriges Thema

Osteuropäische evangelische Christen auf der Suche nach Einheit

Einheit – ein schwieriges Thema

Kein anderes Wort dominierte das Leben in der ehemaligen Sowjetunion so sehr wie Einheit. Mit großem Eifer propagierte die Kommunistische Partei einen einheitlichen soziokulturellen Kurs, der sich von den meisten der 185 Volker des Landes als Groß-Russischer Chauvinismus verstanden wurde. So entstanden überall im Land anti-russische und AntiEinheits-Bewegungen.

Auch unter den Evangelischen Freikirchen bemühte man sich seitens des Systems nach 1943 um eine Vereinheitlichung. Der Allunionsrat der Evangeliums-Christen-Baptisten (AUREChB) sollte zum Dachverband für alle Evangelischen im Land werden. So ließen sich die Gläubigen auch besser kontrollieren und letztlich bekämpfen. Und da die Absichten des Staates bald erkannt wurden, spaltete der AUREChB sich schon 1961. Immer wieder verließen kleinere und größere Gemeinde-Gruppen den staatlich verordneten Verband. Nach dem Zerfall der UdSSR war auch das Schicksal des AUREChB besiegelt. Nicht nur bildeten die Evangelischen Christen in den neu entstandenen unabhängigen Staaten eigene Parallelstrukturen, sondern sie lösten auch die übernommene denominationelle Einheit weitgehend auf. So trennten sich Pfingstgemeinden, Mennoniten, Evangeliumschristen, Baptisten und andere von der Evangeliums-Christen-Baptisten Denomination. Und schon bald spalteten sich dann die neuen Verbände wieder. Heute gleicht die konfessionelle Landschaft in den Nachfolgerepubliken der ehemaligen UdSSR einem bunten Flickenteppich.

Beflügelt wurde diese Entwicklung auch durch den massiven Einsatz westlicher Missionsgesellschaften mit ihren dahinterstehenden Denominationen. Sie kamen, um die Christen in der nachsowjetischen Zeit zu unterstützen, gründeten aber bald eigene Verbände, die wesentlich zulasten der bestehenden traditionellen Kirchen gingen. Mit der Zeit breitete sich große Skepsis unter den nationalen Gemeinden aus, wenn westliche Bewegungen die Einheitstrommel schlugen. Die Evangelische Allianz, Lausanner Bewegung und andere Stimmen aus dem Westen wurden so in der Vorstellung der Einheimischen zu möglichen Spaltern.

Die Evangelische Allianz im postsowjetischen Raum

Die Evangelische Allianz als globale Bewegung hat sich bald nach dem Zusammenbruch der UdSSR um die Christen im postsowjetischen Raum gekümmert. Gerade die Deutsche Evangelische Allianz setzte sich für die Einheit in den neuentstandenen Ländern ein und lud immer wieder Vertreter unterschiedlicher Gemeinden nach Bad Blankenburg zur Allianzkonferenz ein, eine Tradition, die tief in die Geschichte des Ostslawischen Protestantismus reicht. Deutsche Allianzvertreter wie Friedrich Wilhelm Baedecker (1823-1906) besuchten immer wieder Russland und waren auch verantwortlich für die Gründung der ersten Allianzbibelschule für Russische Freikirchen in Berlin 1905 (die jetzige Bibelschule Wiedenest). Die intensiven Kontakte zur Allianz nach Deutschland wurden erst nach der Revolution und dann besonders durch den Zweiten Weltkrieg abgebrochen.

Auch die Evangelische Allianz in der DDR nutzte die Möglichkeiten, in der kommunistischen Zeit Verantwortliche aus anderen sozialistischen Ländern zu den Allianzkonferenzen nach Bad Blankenburg einzuladen und hat so Brücken gebaut und bewahrt. Das Ende der UdSSR markierte auch die Wiederaufnahme dieser Beziehungen. Schon bald entstanden in den meisten GUS- (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) Ländern Kontaktbüros der Evangelischen Allianz. Der baptistische Pastor und Osteuropabeauftragte der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA), Ulrich Materne, setzte sich intensiv für die Gründung Evangelischer Allianzen in den GUSLändern ein. Die Allianzbüros wurden in der Regel aus Deutschland finanziert und entwickelten sich in wenigen Fällen zu Nationalallianzen. Funktioniert haben sie als solche aber nur bedingt. Nur im Baltikum (Estland und Lettland) und in Russland entstanden Allianzen, die dem Anspruch einer Evangelischen Allianz genügen. Auch diese sind, mit Ausnahme der Estnischen EA, nur bedingt aktiv und funktionieren eher wie nationale Büros, die die Vertretung nach außen, hier vor allem zur Europäischen Evangelischen Allianz, wahrnehmen.

Die Russische Evangelische Allianz (REA) ist dafür ein gutes Beispiel. Sie wurde 2003 in Rumjanzewo bei Moskau wieder gegründet. Auf der Gründungskonferenz erklärten die Gründungsmitglieder, die nahezu alle Evangelischen Denominationen in der Russischen Föderation vertraten: „Wir bestätigen, dass die uns durch den Herrn Jesus Christus gegebene Einheit im gemeinsamen Gebet, in der Verbreitung der Guten Nachricht, im Studium der Schrift und in der Wahrnehmung sozial-politischer Verantwortungen ihren Ausdruck findet.“1  Keine Frage, das sind gute Ziele und ganz im Sinne der Allianzbewegung formuliert. 2016 wurde die REA als Mitglied in die Europäische Evangelische Allianz aufgenommen. Aber verwirklicht hat sie kaum eines ihrer gesetzten Ziele.

Ein Neubeginn in Mittelasien

Seit 2017 bemühte sich die Weltweite Evangelische Allianz (WEA) in den Nationalstaaten Mittelasiens, die dort erlahmte Allianzbewegung wiederzubeleben. Infolge mehrerer Besuche in die Region, ist nun in jeder der zentralasiatischen Republiken eine funktionierende EA entstanden. Gemeinsam gründeten diese Allianzen im Oktober 2019 die Regionale Evangelische Allianz Zentralasiens (REAZ) mit Sitz in Taschkent, Usbekistan. Die Bischöfe Petr Kremeruk und Denis Podorozhny (beide Taschkent) wurden jeweils zum Generalsekretär und Präsidenten der neuen regionalen Allianz berufen. Diese Regionale Allianz wurde im November 2019 auf der Generalkonferenz der WEA in Jakarta (Indonesien) in die Weltgemeinschaft aufgenommen.

Bei der Gründung der neuen Allianzen wurde darauf geachtet, nicht bei den traditionellen, meist Russisch sprachigen Denominationen anzusetzen, wie das in der Zeit nach dem Zerbruch der UdSSR anderswo geschah, sondern eine möglichst weite Teilnahme aller in der Region arbeitender Gemeinschaften zu berücksichtigen. Damit wurden auch die von westlichen oder auch koreanischen Missionaren gegründeten Gemeinden ins Boot geholt und neuere Bewegungen, vor allem unter den nationalen Mehrheiten, zur Mitarbeit gewonnen. Sehr hilfreich erwies sich der jahrelange Austausch der evangelischen Akteure bei der jährlichen Zentralasienkonferenz (ZAK) in der Türkei und der seit nunmehr 15 Jahre stattfindenden jährlichen Gebetskonferenz für Zentralasien in Alma-Aty, Kasachstan. Auch der enge Zusammenschluss der aus dem Islam zum Glauben an Jesus gekommener Muslime (MBB) in den meisten Republiken, hat wesentlich den Prozess der Einheit beflügelt. Hier sind offensichtlich Freundschaften entstanden, die über denominationelle Grenzen hinweg tragen. Die Pläne der nationalen sowie der regionalen Konferenz machen Mut. Neben regelmäßigem Austausch und Gebet, packen sie nun die Jüngerschaftsschulung und theologische Ausbildung ihrer Mitarbeiter an. Und sie freuen sich über die Unterstützung aus gut funktionierenden Allianzen in Europa. 

Zum Autor

Dr. Johannes Reimer ist Professor für Missionswissenschaft und Interkulturelle Theologie an der Theologischen Hochschule Ewersbach und Leiter des Departments für Public Engagement in der Weltweiten Evangelischen Allianz.