In Krisen Gott erfahren

Vor 30 Jahren: Gedanken zu den Erfahrungen von 1989/90 und 2020

Das chinesische Wort für Krise setzt sich aus zwei Kürzeln zusammen, aus Gefahr und Chance: 危机

Wie treffend! Ist also eine Krise nicht von vornherein nur negativ zu sehen? Oft können wir inmitten einer Krise weder das eine noch das andere wahrnehmen und nicht immer zeigt sich nach überstandener Notsituation der „Sinn“ dessen, was uns so schwer beschäftigt und verängstigt hat. In diesem Jahr gedenken wir der überstandenen europäischen Krise vor 30 Jahren und stecken in einer neuen weltweiten Krise, die uns so gefangen nimmt, dass wir nicht zurückblicken und den Ausblick nach vorn nur mit Angst wagen. Was war vor 30 Jahren? Unversöhnliche Machtblöcke standen sich noch 1989 gegenüber. Die politische und menschliche Situation im Sozialismus war so erdrückend, dass es die Menschen in der DDR erst in die Kirchen und dann auf die Straße trieb. Hoffnung auf „Chancen“ kam von Michael Gorbatschow aus der Sowjetunion, aber schon wer sich auf ihn berief, geriet auf die „Gefahren-Ebene“. Die Gefahr spitzte sich so zu, dass am 9. Oktober 1989 in Leipzig die sich immer weiter verbreitende Demonstrationskultur mit militärischen Mitteln beendet werden sollte. Die Staatsführung hatte Stasi, Kampftruppen und Polizei in den Nebenstraßen
zum Innenstadtring auffahren lassen, um die „konterrevolutionären Umtriebe“ im Blut von unschuldigen Bürgern des Landes zu ersticken– wie es am 4. Juni 1989 in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens geschehen ist. Doch die hochexplosive Gefahr wurde zur Chance, weil die Waffen nicht zum Einsatz kamen und ein Dialog zwischen Staatsmacht und freiheitsliebenden Bürgern des Landes möglich wurde. Kuriose Wunder und Begebenheiten, wie die Öffnung Ungarns nach Österreich, die Pressekonferenz mit Günter Schabowski am 9. November und der Mauerfall gehören dazu und nehmen der Krise den tödlichen Ernst. Was vor 30 Jahren mit Kerzen und Gebeten in Bewegung gekommen ist, hat selbst versteinerte Parteigenossen ins Fragen gebracht. Für uns als Christen ist der Fall der Mauer ein Wunder des lebendigen
Gottes. Er hat sich als der Herr der Geschichte erwiesen und hat dem sozialistischen Spuk die biblische Grenze von 40 Jahren gesetzt.

 

Gott ist nicht außerhalb der Krise
Gott war nicht außerhalb der Krise, sondern wir haben ihn als handelnden Gott der Geschichte erlebt. Nachdem die Kirchen in den Monaten der „Wende“ voll waren, haben
viele die Chance der Umkehr zu Gott nicht ergriffen. Die Sehnsucht nach Freiheit und endlich (noch) mehr Wohlstand hat sich so in den Vordergrund gedrängt, dass dies schon wieder zur Gefahr wurde. Auch die Zeit des Zusammenwachsens von Ost und West war geprägt von Gefahren und Chancen. Für mich haben sie sich fast die Waage gehalten. In den Tagen vor Corona hatte ich den Eindruck, dass die Dankbarkeit unserem Gott gegenüber wieder mal überspült wird von Egoismus und Angst vor Ausländern.

Und nun Corona. Eine Seuche, die niemand kannte und alle überrascht hat. Weltweit ist sie zur medizinischen, wirtschaftlichen und menschlichen Krise geworden. Die Gefahren beschäftigen fast alle. Verschwörungstheoretiker und sorglose Partyfreaks über- und untertreiben zum Schaden von uns allen. Und wo bitte ist nun Gott in der
Krise, wo die Chance? Er hat die Pandemie nicht geschickt, weder als Strafe, noch als letztes Szenarium vor dem Ende von Himmel und Erde. Selbst wenn es so sei, dann gibt der 1. Petrusbrief (4,7-10) klare Handlungsanweisungen: Seid besonnen und betet; lebt eine ungeheuchelte Liebe; dient einander mit den Befähigungen, die Gott euch geschenkt hat. Also schickt der Herr uns zueinander – die Chance, empfangene Liebe weiterzugeben, zu helfen, wo es nur möglich ist, die Chance solidarisch zu werden nutzen.

Aber was ist mit meiner Angst, die mich bei den düsteren Prognosen der Virologen anspringt? Hier finde ich wieder einen Anker in Gottes Wort: 2. Tim. 1,7 Gott hat uns nicht einen Geist der Furcht gegeben, sondern einen Geist voller Kraft, Liebe und Besonnenheit. Also gehen wir´s an!

Zum Autor

Albrecht Kaul ist ehemaliger stellvertretender Generalsekretär des CVJM-Gesamtverbandes in Deutschland. Aktuell betreut er das „Zelt der Begegnung“ zur Geschichte von 1989/90. Er lebt mit seiner Frau in Kassel.