Blick zurück oder Schritt nach vorn?
Aktuelle Überlegungen zu einer Re-formation
Das Jubiläumsjahr zur Reformation löst bei mir gemischte Gefühle aus. Ich sehe die einzigartige Chance, zentrale christliche Themen wieder öffentlich ins Gespräch zu bringen, die reiche geistliche Geschichte Europas zu würdigen und darüber nachzudenken, was heute für die Kirche wesentlich ist. Aber da ist auch die Gefahr, dass das Eigentliche zwischen Medienrummel, kirchlichem PR-Aktionismus, Luther-Kuriositäten und Rückwärtsfeierei zwischen den Fingern zerrinnt.
Zwischen Bewahren und Loslassen
Schon das Wort Re-formation ist eigentümlich zweiseitig: Es klingt nach Aufbruch, Veränderung; es steckt aber auch das Wort „rückwärts“ drin – die Rückkehr zum Guten Alten und Bewährten. Wieviel Rückkehr, wieviel Neuaufbruch steckt also im Reformationsjahr?
In der Allianzgebetswoche haben Christen in Europa sich auf die Kernanliegen der Reformation besonnen: Allein Christus, die Schrift, aus Gnade, durch Glauben. Bis heute sind in diesen vier Begriffen nicht nur zentrale Einsichten der Reformation, sondern zentrale Eckpunkte des Evangeliums benannt.
Trotzdem liegt auch eine Gefahr in dieser Rückbesinnung auf die Kernformeln der Reformationszeit: Denn: Sind die Themen, die vor 500 Jahren die Gemüter bewegten, auch die heißen Eisen von heute? Man stelle sich vor, Luther hätte 1517 die Erneuerung seiner Kirche allein dadurch anstoßen wollen, dass er die wichtigsten theologischen Erkenntnisse des Jahres 1017 zusammengefasst und in einem groß angelegten Jubiläumsjahr für immer zementiert hätte. Der Charme der Reformation bestand ja gerade darin, dass sie sich aus den vorgegebenen Denkmustern des Mittelalters löste und nach den aktuellen geistlichen Herausforderungen der Zeit fragte.
Die zwei Seiten des Wortes Re-formation erinnern uns daran, dass beides wichtig ist: Dem Alten und Bewährten „wieder Form zu geben“, wo es in Gefahr steht, in Vergessenheit zu geraten oder missverstanden zu werden. Aber auch „neue Formen finden“ für das, was bisher nicht im Blick war, aber vielleicht heute aktuell auf Gottes Tagesordnung steht. Ein weises Lauschen auf das sanfte Reden des Heiligen Geistes ist sicher nötig, um die richtige Balance zwischen Bewahren und Loslassen zu finden.
Vier „Soli“ – unterschiedlich aktuell?
„Christus allein“ und „die Schrift allein“ erscheinen mir heute gegenüber der Reformationszeit noch an Aktualität und Brisanz gewonnen zu haben: Unter Theologen und Kirchenführern, auch unter jungen Leuten aus dem Herzen der missionarischen Gemeindearbeit ist beides heute alles andere als selbstverständlich. In Festreden und Jubiläumsschriften werden diese beiden „Soli“ nur selten erwähnt. Und wenn, dann eher verschämt oder entschuldigend. Der wachsende Sozialdruck, auch der Wunsch nach gesellschaftlicher Akzeptanz, ist an dieser Stelle ein treibendes Handlungsmotiv, mehr als biblische oder reformatorische Vorbilder.
Anders ist es mit „Gnade allein“ und „Glaube allein“: Diese Botschaften hört jeder gern, sie haben auch im Jubiläumsjahr große Konjunktur. Aber treffen sie noch die wunden Punkte, die die Reformation anrühren wollte? Die Botschaft von der Gnade wird heute oft als heilsames Gegengewicht gegen die moderne Leistungsgesellschaft oder fromme Gesetzlichkeit verstanden: „Du bist ok. Bleib wie du bist“. Das ist zwar attraktiv, hat aber nur noch wenig mit der reformatorischen Einsicht zu tun, die sich ja gegen den Glauben wandte, man könne sich den Himmel durch gute Werke verdienen. Auf diese Idee käme aber heute ehrlich gesagt (fast) niemand mehr. Das „sola gratia“ wird also heute meist missverstanden. Das eigentliche Missverständnis dagegen, das es seinerzeit treffen wollte, existiert heute kaum noch.
Ähnlich ist es mit dem „allein aus Glauben“: Gemeint war auch hier ursprünglich der Gegensatz zu den „guten Werken“, mit denen man sich den Himmel verdient. Heute jedoch wird die Formel meist anders verstanden und anders gepredigt: „Hauptsache, du hast einen
Glauben – welcher, ist egal.“ Aus dem gläubigen Vertrauen auf Christus wird eine unbestimmte Gläubigkeit des Menschen. Das klingt, vor allem in einer multireligiösen Welt, attraktiv und versöhnlich. Aber auch hier trifft es nicht mehr das Anliegen der Reformation. Und auch nicht den Glauben, zu dem Jesus oder Paulus einluden.
Zwei der vier reformatorischen „Soli“ wären heute also aktuell und bedeutsam. Sie werden aber weithin verschämt verschwiegen. Die zwei anderen dagegen sind in ihrer ursprünglichen Zielrichtung heute zwar immer noch richtig und wichtig, treffen aber nicht mehr den wunden Punkt. Sie werden mit neuem Inhalt gefüllt und öffentlichkeitswirksam in den Vordergrund gerückt. So treffen sie zwar einen Nerv der modernen Welt, bewirken aber kaum noch Re-formation.
Über die „Soli“ hinausdenken
Bei aller Liebe zu den wichtigen Errungenschaften der Vergangenheit wäre mein Wunsch für das Reformationsjahr:
1. Die zwei „vergessenen“ Soli stärker in den Vordergrund rücken. Sie könnten ein entscheidender christlicher Beitrag zur Debatte um Pluralität und Vielfalt sein: Vielfalt und Akzeptanz können nur da entstehen, wo jeder seine Überzeugung so deutlich wie möglich zur Sprache bringt.
2. Die zwei „missverstandenen“ Soli sollten wir als Christen wieder neu von der Schrift her füllen. Das könnte bedeuten, dass sie in der heutigen Zeit als nicht mehr so relevant erscheinen wie vor 500 Jahren. Das reformatorische Zentralthema („Werkgerechtigkeit“) ist womöglich nicht das zentrale Thema von heute.
3. Dann sollten wir auch über die vier „Soli“ hinausdenken und fragen, welche Themen heute richtungsweisend wären und zur geistlichen und gesellschaftlichen Re-Formation anregen könnten: Worte, die vielleicht heute so überraschend und unbequem sind wie „Gnade“ und „Glaube“ es zur Reformationszeit waren. Botschaften, die in der Bibel zentral sind, aber in der Reformationszeit gerade nicht auf der Tagesordnung standen. Möglicherweise wird ja die Gnadenbotschaft erst dann wieder verständlich, wenn sie mit der Umkehrbotschaft des Jesus von Nazareth Hand in Hand geht. Möglicherweise wird die Einladung zum Glauben erst dann wieder verständlich, wenn Glaube nicht im Gegensatz zu Werken definiert wird, sondern es gelingt, Glaube und Taten untrennbar zusammenzudenken.
Auch ganz andere Themen sollten bei dieser Re-formation in den Blick kommen: Welche Rolle spielt die Botschaft Jesu vom Reich Gottes? Das Wirken des Heiligen Geistes? Und die Hoffnung auf Erneuerung der Schöpfung und des Herzens? Wie können Theologie und geistliches Leben wieder enger zusammenrücken? Die Liste wäre noch weit länger.
Re-formation heißt nicht nur: Die Einsichten der Mütter und Väter des Glaubens neu buchstabieren. Es muss auch heißen: Die Buchstaben neu zusammensetzen und neue Worte finden, die heute gesprochen und gelebt werden.
Dr. Guido Baltes
Zum Autor
Dr. Guido Baltes ist theologischer Dozent und lebt in Marburg/Lahn. Er arbeitet im Arbeitskreis Gebet der Deutschen Evangelischen Allianz mit.