Fenster in der Christ Church in Jerusalem

Jesus und die Juden

Messianische Juden: Ein historischer Überblick

Wer sich mit den wesentlichen Linien zwischen Christen und Juden beschäftigt, landet schnell bei den Messianischen Juden. Die evangelische Pfarrerin Hanna Rucks fasst zusammen:

Wer sind Messianische Juden?

Auf den ersten Blick scheint es einfach, Messianische Juden zu definieren: Sie sind Juden, die in Jesus von Nazareth den Messias Israels sehen. Allerdings ist eine solche Beschreibung ungenau. Es gibt viele Menschen jüdischer Abstammung, die sich als Juden verstehen und an Jesus Christus glauben. Der größte Teil von ihnen findet seine geistliche Heimat in den bestehenden, völkerchristlichen Kirchen. Der Eintritt in die Kirchen ist meist mit einer langsamen Aufgabe der jüdischen Identität verbunden. Solche „jesusgläubigen Juden“ nennt man kaum Messianische Juden. Messianische Juden versuchen, ihre jüdische Identität
beizubehalten und sammeln sich in eigenen Gemeinden. Zudem sind sie historisch und theologisch Kinder des Protestantismus. Das unterscheidet sie von anderen jüdisch-christlichen Gruppen, die über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg eine jüdisch-christliche „Doppelidentität“ gelebt haben – z.B. die durch (katholische) Zwangstaufen entstandene Gruppe der Marranos.
Damit ist umrissen, was landläufig als „messianisch-jüdische Bewegung“ bezeichnet wird. Eine wissenschaftlich eindeutige Definition gibt es nicht. Dies auch deshalb, weil schon innerjüdisch umstritten ist, wer sich eigentlich „Jude“ nennen darf.

Messianische Juden in Deutschland
Schon im 19. Jahrhundert entstand eine Bewegung von „Hebräischen Christen“. Sie ging von England und Amerika aus. Die protestantische Mission unter Juden hat für ihr Entstehen eine wichtige Rolle gespielt. Die „Hebräischen Christen“ waren meist Mitglieder in völkerchristlichen Kirchen. Sie versuchten aber, ihrem jüdischen Selbstverständnis auf verschiedenen Wegen Ausdruck zu verleihen. 1925 entstand eine internationale hebräisch-christliche Allianz, unter deren Dach sich bald auch eine deutsche nationale Allianz ansiedelte. Die Schoa war dann für die hebräisch-christliche Bewegung auf dem europäischen Festland fatal. Viele Mitglieder emigrierten, andere starben. Nach 1945 fristete die deutsche hebräisch-christliche Allianz ein Schattendasein. Zahlenmäßig stark reduziert, fehlte ihr der Schwung der ersten Jahre. Sie hat darum die Entwicklung und den Wandel nicht mehr mitgemacht, der sich anfangs der 1970er Jahre in der hebräisch-christlichen Allianz in Amerika vollzog. Eine junge Generation wurde aktiv, die ein stärker  jüdisches Selbstbewusstsein hatte. Viele der Jungen waren von der charismatischen Bewegung beeinflusst, riefen nach einem stärkeren Ausdruck der jüdischen Identität und eigenen Gemeinden. Fast parallel trat diese Entwicklung auch in Israel ein. Die messianisch-jüdische Bewegung entstand. Als nach dem Fall der Mauer offen gelebte Religion in den Staaten der ehemaligen UdSSR möglich wurde, wendeten sich dort zahlreiche Juden dem protestantischen Christentum zu. Manche „entdeckten“ mit der Zeit ihre jüdische Abstammung als eine religiöse Kategorie für sich. Messianisch-jüdische Mission im Gebiet trug dazu bei. So entstand auch ein russischsprachiges Messianisches Judentum. Durch Auswanderung ist es in andere Staaten getragen worden, u.a. nach Deutschland: In den 1990er Jahren wanderten etwa 200.000 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland ein. Messianische Juden unter ihnen haben hier Gemeinden aufgebaut. Eine Studie im Jahr 2008 zählte etwa 40 Gruppen und Gemeinden in der Bundesrepublik.

Ihre Religionspraxis
Messianische Juden feiern in der Regel die Feste des jüdischen Kalenders. Pessach, Schawuot (Wochenfest/Pfingsten) und Sukkot (Laubhüttenfest) sind die drei großen Feste des Jahres. Grundsätzlich orientiert man sich an den Festen, die in 3. Mose 23 beschrieben sind. Teilweise feiern Messianische Juden ebenfalls später entstandene jüdische Feste wie Purim oder Chanukka. Dabei entwickeln sie eigene Traditionen.
Manche nehmen Elemente der alttestamentlichen Festüberlieferung auf (z.B. indem sie den Charakter als Erntefeste hervorheben). Oft übernehmen Messianische Juden Teile der Festliturgien oder -traditionen, die das rabbinische Judentum pflegt. Gerne „messianisieren“ sie solche Traditionen. Ein Beispiel: Zu Beginn des Sabbats zündet die jüdische Mutter Kerzen an. Zu diesem Ritual sagt sie einen Segensspruch. Manche messianisch-jüdische Familien übernehmen das Kerzenanzünden – allerdings nicht unbedingt mit dem traditionellen Segen. Man kann als Segensspruch hören: „Gepriesen seist Du, Herr unser Gott, König der Welt, der uns Jesus als Licht der Welt gab.“ In ihrem „Wochenrhythmus“ sind viele Messianische Juden „christlich“ geprägt. Nur wenige pflegen die drei jüdischen Tagesgebete. Es gibt einen wöchentlichen Gottesdienst
am Schabbat. Dieser ist von seinem Aufbau her oft nahe an christlich-freikirchlichen Gottesdiensten, ergänzt diesen allerdings durch Teile aus der jüdischen Liturgie. In den vergangenen Jahrzehnten ist eine eigene messianisch-jüdische Worship-Musik entstanden. In Deutschland sind Gottesdienste und Lobpreis-Zeit häufig mehrsprachig: Deutsch und Russisch, im Liedgut vereinzelt auch Hebräisch. Messianische Juden lassen in der Regel ihre Jungen beschneiden.

In der Bewegung ist die Erwachsenentaufe verbreitet – mit Untertauchen des ganzen Körpers. Das Abendmahl wird unterschiedlich häufig gefeiert. Manche feiern es einmal im Jahr an Pessach, andere monatlich oder sogar wöchentlich. Neben dem jüdischen Pessachfest beeinflusst noch eine andere jüdische Tradition die messianisch-jüdische Abendmahlsfeier. In der jüdischen Religionspraxis macht man am Sabbatabend einen „Kiddusch“. Der Hausvater spricht einen besonderen Segen über Brot und Wein. Manche Messianische Juden nehmen auch Kiddusch-Texte in ihr Abendmahl auf.

In welchem Umfang Messianische Juden Gebote einhalten, unterscheidet sich von Person zu Person. Stärker am Christentum Orientierte teilen die alttestamentlichen Gebote in Kategorien wie „Moral-“ oder  „Zeremonialgebote“ und halten nur die Moralgebote. Andere verzichten auf eine solche Einteilung und versuchen, alle alttestamentlichen Gebote soweit als möglich zu praktizieren. Das bedeutet, z.B. auf das Essen von Schweinefleisch und anderen verbotenen Tieren zu verzichten. Nicht wenige übernehmen auch verschiedene Gebote der Halacha – die „mündliche Tora“ des rabbinischen Judentums. Dazu gehört zum Beispiel, als Mann beim Gebet eine Kippa zu tragen. Für viele ist dieses Befolgen halachischer Gebote allerdings nicht religiös begründet, sondern soziologisch. Sie halten diese Gebote nicht als göttlichen Willen, sondern um sich mit ihrem Volk zu identifizieren. Die meisten halten die Halacha denn auch nicht umfassend, sondern eine persönliche Auswahl halachischer Gebote. Es gibt, v.a. in Amerika, auch Versuche, aufgrund der rabbinischen Halacha und des Neuen Testaments eine eigene messianisch-jüdische Halacha zu entwickeln. Am jüdischen Rand der Bewegung gibt es Messianische Juden, die auch ganz die rabbinische Halacha befolgen.

„Judenmission“ in der Diskussion

Messianische Juden werden aus zwei Gründen häufig mit dem Thema „Judenmission“ in Verbindung gebracht. Zum einen gelten sie manchen als „Frucht von Judenmission“. Zum anderen werden sie häufig als „Judenmissionare“ wahrgenommen. Viele, die sich „gegen Judenmission“ aussprechen, äußern deshalb auch Kritik an „Messianischen Juden“ – und umgekehrt. Befürworter von „Judenmission“ unterstützen Messianische Juden. Eine Identifizierung „Messianischer Juden“ mit „Judenmission“ greift allerdings zu kurz. Der Verfasserin sind zahlreiche messianisch-jüdische Biografien bekannt, wo der Weg in die Bewegung ohne Kontakt zu missionarischen Gruppen oder Personen erfolgte. Manchmal hat die Lektüre des Neuen Testaments Menschen auf messianisch-jüdische Wege geführt. Andere, die christlich aufgewachsen sind, haben in fortgeschrittenem Alter von ihren jüdischen Wurzeln erfahren und sind so zur Bewegung gekommen. Auch christlich-jüdische Mischehen haben in der messianisch-jüdischen Bewegung ein Zuhause
gefunden.

Kurz: Die messianisch-jüdische Bewegung als ein Produkt von „Judenmission“ wahrzunehmen, ist zu einseitig.

In ihren eigenen missionarischen Bemühungen unterscheiden sich Messianische Juden deutlich voneinander. Vom Verschweigen des eigenen Jesusglaubens in jüdischem Umfeld bis zu einem offensiven Flyer-Verteilen ist alles zu finden.

Die Debatte um das Verhältnis von Messianischen Juden zum Thema „Judenmission“ wird dadurch erschwert, dass der Begriff „Judenmission“ uneindeutig benutzt wird. Manche kirchliche Verlautbarung nennt es „Judenmission“, wenn Nichtjuden an Juden mit dem Evangelium herantreten. Andere verwenden das Wort, wenn jesusgläubigen Juden nahegelegt wird, ihre jüdische Identität aufzugeben. Wieder andere sprechen von „Judenmission“, wenn die Evangeliumsverkündigung unter Juden „organisierte Formen“ angenommen hat oder institutionalisiert ist. Man kann den Begriff „Judenmission“ auch als Bezeichnung einer Haltung finden. Menschen seien „judenmissionarisch“, weil sie mit christlichem Überlegenheitsgefühl an Juden herantreten. Oder weil sie sich im Gespräch mit Juden nicht als Lernende verstehen. Zuletzt kann „Judenmission“ für die theologische Ansicht stehen, dass – auch für Juden – das Heil in Jesus Christus zu finden sei. „Judenmission“ wird uneindeutig und vielschichtig verwendet. Daher ist es für jedes Gespräch über das Thema von großer Wichtigkeit zu klären, was man meint, wenn man von „Judenmission“ spricht. Nur so wird man seinem messianisch-jüdischen, jüdischen oder christlichen Gegenüber gerecht. Es wäre zu wünschen, dass in der Begegnung zwischen Synagoge, Messianischen Juden und Kirchen das Thema sachlich und differenziert besprochen wird. Dies hat bisher kaum stattgefunden.

Die messianisch-jüdische Bewegung ist weit mehr als eine neue religiöse Splittergruppe. Sie ist eine theologische Anfrage an unsere christliche Existenz. Das Neue Testament malt eine Kirche aus Juden und Völkern vor Augen. Im Anblick messianisch-jüdischer Gemeinden müssen wir Christen uns fragen, ob und wie wir das leben.

Zur Autorin

Hanna Rucks ist evangelische Pfarrerin in Harpstedt/Niedersachsen. Sie hat über Messianische Juden promoviert.