Hierarchie oder Netzwerk?
Generalsekretär Reinhardt Schink: Überlegungen zum Miteinander, zum Fischen und den Knotenpunkten
Hierarchie oder Netzwerk?
Von Reinhardt Schink
"Was dat Wichtigste an einem Netz is, Jungelchen?“ Das Gesicht des friesischen Fischers drückt Erstaunen aus – einerseits. Andererseits legt er sein vom Meereswind gegerbtes Gesicht in Falten und scheint zu überlegen, ob die Frage wirklich ernst gemeint und einfach der Unwissenheit der süddeutschen Landratte zuzuschreiben ist, die da vor ihm steht. Seine Gutmütigkeit siegt über die friesisch herbe Lebensart, die den Flachlandtiroler am liebsten wieder jenseits des Weißwurst-Äquators gewünscht hätte: „Na, die Knoten, wat denn sonst!?“
Die Knoten! Ohne Knoten ist ein Netz kein Netz, sondern eine Sammlung loser Schnüre. Völlig ungeeignet zum Fischen. Und ohne Knoten stehen auch Menschenfischer hilflos vor ihrer großen Aufgabe, hilfloser noch als Meeresfischer.
Knoten. Das Wort ist nicht unbedingt positiv besetzt. Wer will schon verknotet sein? Knoten müssen gelöst, die berüchtigten gordischen Knoten zerschlagen werden. Trotzdem reden wir in der Evangelischen Allianz in Deutschland immer häufiger davon, dass wir ein Netzwerk sind bzw. sein wollen. Die Frage ist darum: Was meinen wir damit? Und was sind dann die Knoten in unserem Miteinander?
Ich merke, ich werde unruhig. Häufig nutzen wir diese Netzwerk-Metapher – und sind gedanklich doch noch weitgehend in der Vorstellungswelt hierarchisch organisierter Einheiten gefangen. Ohne die vermeintlich „gute, alte Hierarchie“ – ich stimme dem gerne zu – geht es nicht.
An der Spitze der Hierarchie mag in dieser Vorstellung der große, charismatische Leiter stehen: die Identifikationsfigur, die alles richten wird und angesichts der zunehmenden Komplexität der Welt alles einordnet, erklärt, sortiert, bewertet, gewichtet, ... die Richtung vorgibt. Oben ist das Zentrum, bei dem alles zusammenläuft und alles steuert.
Aber: Ein Netz hat gerade kein Zentrum! Es hat – richtig! – Knoten. Nicht einen, sondern viele. Und alle sind gleich-bedeutend. Selbst wenn sie unterschiedlich ge-knüpft sein sollten, ist kein einziger verzichtbar. Ein ein-ziger fehlender Knoten genügt, damit ein Loch einsteht, durch das sämtliche Fische entfleuchen und das gesamte Netz seinen Zweck verfehlt.
Christliche Identität heißt: Leben im Netzwerk, als „Leib Christi“
Sind uns diese Folgerungen bewusst, wenn wir in der Evangelischen Allianz das Hohelied des Netzwerks singen? Sagen wir Ja zu den Konsequenzen: für das Selbstverständnis, die Entscheidungsprozesse und die Interaktionen? Sind wir bereit für den damit verbunden Kulturwandel? Lassen wir die damit verbundenen Unsicherheiten zu? Und werden wir die fast zwangsläufigen aufkommenden Missverständnisse und Reibungsverluste akzeptieren?
Ein solch grundlegender Paradigmenwechsel ist ein (im wahrsten Sinne des Wortes) spannender Prozess, der allen Beteiligten viel abverlangt. Aber er eröffnet Zukunftsräume. Im Rückblick werden wir über manche Diskussionen schmunzeln und hoffentlich bekennen können, dass die christliche Gemeinschaft wirklich eine ganz besondere Qualität hat, die durch einen Frieden gekennzeichnet ist, der über alles Verstehen hinausgeht. Wollen wir diesen Weg der Veränderungen auf allen Ebenen gemeinsam gehen? Als Einzelpersonen, als Gemeinschaften in den Ortsallianzen und als Werke in der Evangelischen Allianz? Das wird kein Spaziergang. Und wenn wir den Weg gehen, dann nicht, weil ein Netzwerk die Organisationsform der Zukunft wäre. Auch nicht, weil es angeblich alternativlos ist oder weil es die effizienteste Form wäre, die zunehmende Komplexität unserer Umwelt zu bewältigen, und den dringend notwendigen Generationenwechsel zu vollziehen. All dies ist richtig und wäre es wert, in einem eigenen Artikel genauer unter die Lupe genommen zu werden.
Der wesentliche Grund ist, dass die Evangelische Allianz schon immer ein Netzwerk ist. Oder, um das noch treffendere, reichhaltigere Bild zu verwenden: die Identität der christlichen Gemeinde und auch der Evangelischen Allianz ist der Leib; ein Organismus – mit vielen verschiedenen Gliedern und dem einen, ewigen Haupt, von dem alles ausgeht: Christus. Keine Frage: So unterschiedlich die einzelnen Glieder sind, so sehr sind sie aufeinander angewiesen. Ein Tor, wer hier unterschiedliche Wertigkeiten konstruieren wollte! Wer einmal unter heftigen Zahnschmerzen gelitten hat, weiß, wie ein unscheinbares Loch in einem Zahn, irgendwo weit hinten im Mund, plötzlich zum Mittelpunkt aller Empfindungen und Aufmerksamkeit werden kann. Eine kleine Verstopfung legt nicht nur den Darm lahm ... Die Liste ließe sich beliebig verlängern.
Die klare Botschaft heißt: Alle Glieder brauchen einander, in ihrer Verschiedenheit. Der Körper funktioniert nicht richtig, wenn eins der Glieder fehlt. Jede Krücke schmerzt und ist nur ein unzulänglicher Ersatz. Natürlich wird nicht jedes Glied gleichermaßen beachtet oder hat die gleiche Reichweite wie ein anderes. Es wäre aber völlig falsch, deshalb den Gliedern unterschiedliche Wertigkeiten beizumessen. Alle Glieder brauchen einander und dienen einander. Nur im Miteinander können die Impulse des Hauptes umgesetzt werden. Der Netzwerk-Gedanke hilft uns, dieses alte, wertvolle Bild des Paulus neu zu entdecken.
Nicht lose, sondern hineingewachsen und verwoben
Der Fischer wendet sich wieder seinem Netz zu. Betrachtet die Seile und säubert sie an den Stellen, die von Algen überwuchert sind. Er bessert aus, ergänzt. Knüpft Knoten an Knoten. Sie sind die entscheidenden Stellen: Hier berühren sich die Seile nicht nur, sondern sie sind fest miteinander verbunden. Wenn wir also Netzwerk sein wollen: Haben wir den Mut, uns so fest miteinander verbinden zu lassen? Nicht nur auf Zeit, sondern auf Dauer? Nicht nur solange, wie es uns Spaß macht und wir „etwas davon haben“?
Dieser Gedanke ist komplett entgegengesetzt zu unserer westlichen Prägung. Aber er ist ganz nah am Bild des „Leibes Christi“: Als festes Glied am Körper gehöre ich dazu. Das ist der Unterschied zu einer Prothese, die ich nach Belieben wieder abnehmen, austauschen kann. Glieder sind angewachsen. Netzwerkknoten sind fest geknüpft. Sie können nicht ohne weiteres wieder aufgelöst werden – jedenfalls nicht, ohne die Funktion des Netzes empfindlich zu beeinträchtigen.
Die Netzwerk-Metapher wird manchmal im Sinne eines losen, unverbindlichen Miteinander-Arbeitens verwendet, das jederzeit auch wieder auseinandergehen kann, wenn sich die Interessen der Partner ändern oder das Verhältnis von Beitrag und Ertrag den Partner nicht mehr attraktiv erscheint. Aber nichts würde dem inneren Wesen eines Netzwerks weniger entsprechen als diese verzerrte Wahrnehmung. Ein Netz ist fest geknüpft – oder es versagt im entscheidenden Moment. Am Leib bin ich angewachsen – oder ich bin eben nur eine Prothese und damit ein Fremdkörper, egal, wie hilfreich und notwendig die Funktion auch sein mag.
Weder beim Bild vom Netz noch beim Leib stellt sich dagegen die Frage der individuellen Nützlichkeit. Man gehört dazu: weil man hineingewachsen oder in das Netz verwoben ist. Man füllt seinen Platz aus, ist Teil des Größeren, das identitätsstiftend wirkt und Heimat bietet. Nicht individualistisch verkürzt, sondern im Zusammenhang mit dem Ganzen.
Ich schaue meinem Fischer zu, wie seine wettergegerbten Hände unglaublich schnell einen Knoten zum anderen setzen. Die Knoten sind kunstvoll geknüpft. Das ist erstaunlich, denn es sind doch „nur“ Knoten. Massenware, nichts Besonderes. Nicht weiter beachtenswert. Oder?
Aber was stellen diese Knoten dar, wenn wir das Netzwerk-Bild auf die Situation der Evangelischen Allianz übertragen? Der erste, naheliegende und verständliche Gedanke lautet: Menschen. Die neuere Systemtheorie würde anders antworten: nämlich „Kommunikationen“. Mit diesen veränderten Grundannahmen entsteht eine komplett neue Sichtweise – interessant, verwirrend und überraschend. Die übliche Sichtweise wird quasi auf den Kopf gestellt. Aber unabhängig davon, ob nun die Menschen selber oder deren Kommunikation die Knoten im Netzwerk repräsentieren: Beim Blick auf den Fischer wird mir klar, dass das Knüpfen eines Netzwerkes eine Handwerkskunst ist, deren Anwendung im Alltag manchmal recht mühsam sein wird. Sie erfordert Zeit, Geschick und Einsatz.
Glücklicherweise wird heute die Handwerksarbeit durch Technik unterstützt. Keine Frage: Beziehungen innerhalb des Netzwerks der Evangelischen Allianz in Deutschland werden nach wie vor durch persönliche Begegnungen geknüpft. „Handwerk“ pur, und unersetzlich – Gott sei Dank! Und gleichzeitig bin ich dankbar für alle technischen Möglichkeiten, die uns helfen, die Beziehungen im Netzwerk lebendig zu halten. Im Gegensatz zu früheren Zeiten müssen wir weder Brieftauben fliegen lassen noch für Treffen eine mehrtägige Anreise einplanen. Zur Stärkung unseres Netzwerks werden wir in unserem Tagungszentrum in Bad Blankenburg das Haus Frieden nicht „nur“ renovieren, sondern auch mit moderner Tagungs- und Konferenztechnik ausstatten. Auf diesem Wege wird es möglich sein, Besprechungen und Tagungen vor Ort mit vielen anderen deutschland- und sogar weltweit in Echtzeit zu teilen. Sie werden nicht nur als passive Zuschauer, sondern als aktive Teilnehmer an den Sitzungen teilnehmen können. Arbeitskreise können sich mit regionalen Gruppen vernetzen und an einem Thema gemeinsam arbeiten.
Schritte in die Zukunft: Lernen von Fisherman‘s Friends
Das ZukunftsForum der Evangelischen Allianz im Herbst 2019 hat mit einem unglaublichen Momentum 18 Projekte zutage gefördert, die für die Zukunftsfähigkeit der Evangelischen Allianz in Deutschland von entscheidender Bedeutung sind. Wir haben Kollaborations-Plattformen eingeführt, mit deren Hilfe dezentral an diesen Projekten weitergearbeitet werden kann. Die Impulse können auf diese Weise in den Ortsallianzen wahrgenommen, aufgegriffen und auch selbst weiterentwickelt werden.
Damit verändert sich auch die Aufgabe der Deutschen Evangelischen Allianz. Es ist absehbar, dass es künftig weniger darum gehen wird, zentral etwas vorzubereiten, das die Ortsallianzen dann – bitteschön – umsetzen sollten. Vielmehr wird es darum gehen, die Schätze, die Gott uns bereits geschenkt hat, in zunehmendem Maße sichtbar zu machen und allen zur Nutzung zur Verfügung zu stellen. Sind wir bereit, uns von Gott Menschen zeigen zu lassen, denen Er in einer besonderen Weise Themen oder soziale Milieus aufs Herz gelegt hat – und die so zu einem Knoten in Seinem Netzwerkwerk werden? Andere können sich bei ihnen andocken und die Anliegen mittragen. Ich denke an Menschen – vielleicht ganz ohne Funktion in offiziellen Strukturen und Institutionen –, die einladend Beziehungen knüpfen können und mit denen man sich gerne verbindet. Netzwerke und ihre Knotenpunkte: Dies ist weit mehr als eine Metapher. Bei den Schritten in die Zukunft dürfen wir eine neue, überraschende Welt entdecken, die Gottes Weisheit atmet. Es wird sich lohnen, von Petrus und den anderen „Fisherman’s Friends“ zu lernen.
Sind Sie mit dabei? Vielen Dank, wenn Sie uns auf diesem Weg unterstützen! Oder mehr noch: wenn Sie selber Weggefährte und Teil der Entdeckergemeinschaft sind, die sich im Blick auf unseren wiederkommenden Herrn – dem bereits heute die Zukunft in alle Ewigkeit gehört – immer wieder gegenseitig ermutigt.
Zum Autor
Dr. Reinhardt Schink ist Generalsekretär der Evangelischen Allianz in Deutschland
Auf Anregung vom ZukunftsForum wird künftig durchgängig umgangssprachlich die Bezeichnung Evangelische Allianz in Deutschland (EAD) verwandt.