Einheit, Freiheit, Polarisierung
Was können wir tun angesichts wachsender Fremdheit und auseinanderdrfitender Positionen?
Einheit, Freiheit und Polarisierung?
Einheit als Arbeitsauftrag
Muss man daran erinnern? Unser Auftrag ist klar: Im Sinne Jesu (Johannes 17,21) das Einssein in Christus leben und fördern, „damit die Welt glaube“, dass Christus von Gott gesandt wurde. Einheit hat ein klares und hohes Ziel. Es geht um etwas! Aber: Dieses hohe missionarische Ziel gilt nicht erst, wenn wir in allen Streitfragen von Glauben und Leben eins sind, sondern trotz unserer oft unterschiedlichen Ansichten als Jesus-Nachfolger.
Damit sagen Freunde der Allianz-Bewegung zugleich auch: Einheit hängt nicht ab von unserer Homogenität, sondern ist Teil der Entscheidung für Jesus selbst: So wie ich ihm nach-folgen will, so entscheide ich mich für den „Arbeitsauftrag“, seinem Wunsch und Auftrag zur Einheit zu folgen. Nachfolge Jesu bindet uns an das, was Jesus wichtig ist. Aber: Das fällt selbst uns Allianz-geprägten Christen zunehmend schwer! Wir erleben politisch-gesellschaftliche Debatten, die auch in Kirchen und Gemeinden durchschlagen und dort sogar noch – theologisch aufgeladen – zugespitzte Bedeutung bekommen. Statt einer Kultur des Vertrauens erleben wir eine wachsende Misstrauens-Krise, die wie ein Krebs wuchert und das wert-volle Gut der Einheit bedroht – und damit auch unseren missionarischen Auftrag. Eine schmerzliche Tragödie, die durch die Nachwehen der stark polarisierten und durch christliche Themen überhöhten US-Wahl und die Verunsicherungen der Corona-Pandemie eher noch zunimmt.
Draußen oder drinnen?
Sind unterschiedliche Positionen ein neues Phänomen? Nein, natürlich nicht – es war nie anders: Diskussion oder Streit hat es immer gegeben unter Christen. Nur schien es früher so, als ob das „Allianzlager“ ein Hort friedlicher Übereinstimmung war; die jeweiligen Diskussions-Gegner schienen immer „draußen“ zu stehen. Jetzt merken wir, dass auch unter „uns“ die Meinungsvielfalt und Polarisierung zunimmt. Dieser Ab-schied von Allianz als „sichere Burg der Freunde“ fällt schwer.
Allerdings war es nie so, dass die potenziellen Streitthemen unter uns nicht groß gewesen wären: Landes- und Freikirche, Kinder- oder Erwachsenentaufe, Abendmahlsverständnis, Kriegsdienst, „Frauenfrage“ oder Gemeindeneugründung boten genug Stoff für ernsthafte Auseinandersetzung – wenn man darüber streiten wollte. Nur: Man wollte gar nicht! Man hatte sich unausgesprochen oder bewusst darauf geeinigt, viele dieser Gebiete für nicht wichtig genug zu halten, um Jesu Wunsch zur Einheit zu behindern. Es war eine Entscheidung, kein Messergebnis theologischer Gewichtigkeit. Denn die oben genannten Themen sind keine theologischen „Peanuts“ – sie sind wichtig! Aber sie waren – bis-her – offensichtlich nicht gewichtig genug, um den gemein-samen Ruf zur Einheit in Christus zu behindern. Warum erleben es viele heute so anders? Warum gefährdet uns eine zunehmende Schraube der Polarisierung und Entfremdung?
Entfremdung: Gründe im Überfluss
Wir leben in einer Zeit, in der Misstrauen leichtfällt. Gründe für eine zunehmende Polarisierung gibt es im Überfluss. 30 Jahre nach der deutschen Einheit und dem Ende des Kalten Krieges stehen wir vor völlig neuen Groß-Herausforderungen, die unser Denken und Verhalten zutiefst verunsichern. Und: Diese Themen sind hochkomplex, schwer durchschau-bar und ineinander verwoben. Es gibt keine schnelle klare Linie, die wieder neu Überblick verschafft. Eine gründliche Analyse der Situation würde dicke Dossiers verlangen – die Zutaten unserer Verunsicherung aber liegen auf der Hand:
• Eine starke Säkularisierung der Gesellschaft, die durch deutsche Einheit und wachsende Migration beschleunigt wird.
• Die wachsende Globalisierung, die zusammen mit der Kultur-Revolution der Digitalisierung und den Möglichkeiten künstlicher Intelligenz eine enorme Diskontinuität schafft: Alles wird anders.
• Die weltweite Klimakrise, abnehmende Artenvielfalt und schwer zu beherrschende Pandemien wie Covid-19 bedrängen unseren Zukunfts-Optimismus und werfen völlig neue Fragen auf, deren Dimension wir noch nicht einschätzen können.
• Der Traditionsabbruch in den großen Kirchen: Die Glaubensweitergabe gelingt zunehmend weniger, die gesellschaftliche Achtung der Kirchen nimmt ab. Religion wird – verstärkt durch politische Krisen und einen vitalen Islam – in der Gesellschaft als Problem erlebt, nicht als Lösung.
• Gesellschaftlich lange verdrängte Themen (Gleichberechtigung, Rollenverständnis, sexuelle Minderheiten) bestimmen – vom Wunsch nach politischer Korrektheit befördert – mit ideologischem Überdruck die gesellschaftliche Diskussion. Verändertes Denken zu Homosexualität, Feminismus und Genderthematik verunsichert.
• Politische Reaktions-Bewegungen wie die AfD bilden die zunehmende gesellschaftliche Entfremdung ab, schaffen es aber nicht, den altgewohnten Konsens der Vergangenheit wiederherzustellen.
• Viele dieser Themen sind zugleich so komplex verwoben, dass sich in jedem von ihnen jeweils unsere gesamte Sorge um die Zukunft zu bündeln scheint. Scheinbar geht es stän-dig um „alles“, Menschen fühlen sich bedroht.Verstärkt werden alle Prozesse durch die enorme Veränderung von Kommunikation und Debatten-Kultur. Soziale Me-dien haben für eine positive Demokratisierung von Meinungs-äußerung gesorgt, zersplittern die Meinungsbildung aber auch in unendlich viele kleine Teil-Biotope, die gegeneinander um Aufmerksamkeit ringen und enorme Kräfte binden. Wo früher mit gemächlichen Wartezeiten sorgfältig abgewogene Statements erarbeitet wurden, beherrschen heute schnelle – manchmal mehr vom Bauch als vom Kopf geprägte – Reaktionsmuster die Debatten und sorgen für ein hektisches Grundklima. Wir leben in einer digitalen Kakophonie, die Gesellschaft und Kirche zunehmend überfordert.
Das Gift der Polarisierung verstehen
Dazu kommt ein neues Problem: Digitale Debatten verstärken das schleichende Gift der Polarisierung. Sie vertiefen Trennung, statt sie zu überwinden. Unterschiedliche Meinungen gab es immer – eine zunehmende Polarisierung aber sorgt dafür, trennende Gebiete besonders herauszuheben und sie fokussiert in das Licht unseres Interesses zu stellen. Polarisierung setzt uns eine „Such-Brille“ auf und sorgt dafür, die Dinge aus dem Gleich-Gewicht zu bringen, ihnen übergroße Dimension zu geben. Das schleichende Gift daran: Polarisierung ernährt sich immer selbst – der suchende Blick findet (gefördert durch Google und digitale Meinungs-Biotope) immer Fakten und Meinungs-Nachschub. Ich bewege mich in den Echokammern und Filtern meiner Interessengruppen. Wer andere Stimmen oder Themen nicht bewusst als Ausgleich sucht, könnte meinen, die gesamte fromme Welt müsse sich an wenigen Themen entscheiden und zu ihnen verhalten – oder habe den Ernst der Lage nicht verstanden.
Dazu kommt der persönliche Verletzungsfaktor, der durch das Internet verschärft wird. Jeder ist in diesen Zeiten bequemer digitaler Distanz nur allzu leicht Täter und Opfer. Hart empfundene Zeiten sind ein Ticket für Lieblosigkeit. Es tut weh, wenn man aufrichtige Ambitionen niedergemacht sieht – Schmerz, Bitterkeit, Stolz oder Eitelkeit verleiten zu spontanen Reaktionen. Zudem wollen wir oft nicht zuerst den Meinungs-Gegner gewinnen, sondern suchen die digitale Zustimmung unserer Lobby – statt Verstehens-Brücken zum Gegenüber. Auch wir selbst sind durch die Möglichkeiten des Internets ständig in Gefahr, unüberlegt, spontan, an unserer selektiven „Suchbrille“ oder populären Vorurteilen orientiert zu reagieren. Schon oft haben wir vermutlich am nächsten Tag bereut, was uns in einer persönlichen Begegnung gar nicht herausgerutscht wäre.
Erschwerend hinzu kommt der Verbrauch von Begriffen: Übereinander als „Konservative“ oder „Liberale“ zu sprechen, ist in sich problematisch genug, weil die Begrifflichkeiten oft völlig unterschiedlich gefüllt und kaum differenziert sind. Da, wo ich selbst stehe, ist meist die gesunde Mitte der Welt. Aber was bedeutet es wirklich, wenn jemand von mir aus gesehen „liberaler“ oder „konservativer“ ist? Ist der Begriff damit hinreichend qualifiziert? Wie nah oder fern sind wir uns wirklich, wenn wir die „Suchbrille“ der Polarisierung abnehmen? Und kann Jesus in und unter uns das wirklich nicht mehr überwinden?
Wie können wir positiv beitragen?
Wer sich momentan Diskussionen im Internet ansieht, könnte meinen, die Allianzbewegung trenne sich in zwei große Flügel: einen eher konservativen und einen eher liberalen (wobei ich die Gefahr dieser verkürzenden Benennungen oben deutlich gemacht habe). Tatsächlich glaube ich, dass die Wirklichkeit auch hier viel differenzierter und komplexer aussieht: Es gibt eine breite Mitte der Allianz-Bewegung, die sich – je nach Thema – mal hier oder da positioniert, sich aber nicht gegen eine gute Zusammenarbeit instrumentalisieren lassen will. Zwar liegt in der Mitte nicht die Wahrheit, sehr wohl aber das vielleicht größere Augenmaß, wenn es um die Frage nach jesusgemäßer Einheit und missionarischer Frucht geht. Ihrem Selbstverständnis nach ist die Evangelische Allianz in Deutschland nicht zuerst Lobbygruppe oder Bekenntnis-plattform, sondern Einheits- und Gebetsbewegung, hinter Jesus her. Wir nehmen einander also das Ja-Wort zu Basis und Auftrag der EAD ab und entscheiden uns, der kraftvollen Wirklichkeit Jesu im anderen zu vertrauen.
Deswegen brauchen wir gerade in dieser Zeit neu die Ein-sicht, die wir heiratswilligen Menschen gern bei der Hochzeit mitgeben: Die Ehe zwischen unterschiedlichen Menschen wird getragen durch Liebe. Jener Liebe, an der wir als Chris-ten erkannt werden sollen. Aber, wir wissen es: Liebe ist eine Entscheidung und verlangt Arbeit, sonst landen wir in der Abwärtsspirale unterschiedlicher Interessen und Prägungen, Sorgen und Ängste, Blickwinkel und Suchbrillen.
Was heißt „arbeitsame Liebe“ für mich?
Nein sagen zu Polarisierungen und einseitiger Blickverengung. Sich breit informieren und die Haltung der jeweils anderen fair formulieren können und verstehen wollen – auch wenn ich am Ende vielleicht zu einem „agree to disagree“ komme.
Zurückhaltung in digitalen Debatten üben. Muss ich mich einmischen? Baut meine Stimme Brücken? Fördert sie Verstehen? Hat Jesus Freude an ihr?
Mich entschuldigen, wo ich mich zu unnützen oder spitzen Bemerkungen und leichten Siegen vor dem Publikum meiner Lobby habe hinreißen lassen oder mein Gegenüber verletzt oder ihm Schaden zugefügt habe.
Nicht vor anderen über andere reden, sondern die persönliche Begegnung oder Austausch mit ihnen suchen. Digitale Dialoge gehen wunderbar per Video und zu zweit.
Was kann die Allianz als Bewegung tun?
Zusammenarbeit, gemeinsames Gebet und unseren missionarischen Auftrag befördern und zum Mittelpunkt aller Lebensäußerungen machen.
Vor Ort oder national immer wieder geschützte Räume für Begegnung und offenes Gespräch ermöglichen, kein Thema ausschließen, unseren Blick weiten.
Einen möglichst fairen Blick auf unterschiedliche Positionen ermöglichen und Verstehenswege zueinander öffnen.
Mithelfen, neue Paradigmen von Gemeinsamkeit trotz wachsender Unterschiedlichkeit zu entwickeln und zu erproben.
Respektvoll mit anderen Gruppierungen und Meinungen umgehen und ein Beispiel für Begegnung und Gespräch setzen – vor Ort und national.
Wenn wahr ist, dass Liebe Entscheidung und Arbeit ist, dann gilt auch der alte kluge Satz: „Wer etwas will, der findet Wege. Wer etwas nicht will, findet Gründe.“ Die DEA will Einheit – und deswegen muss sie immer wieder neu nach Wegen suchen, wie dieses zentrale Anliegen zentral bleibt.
Dabei ist wichtig, unter uns Verständnis, Respekt und Kompromisse nicht klein zu reden: Nein, wir sollen nicht mit Jesus Kompromisse machen, sehr wohl aber in seinem Sinne und um seines Auftrags willen! Deswegen müssen wir den Themen ihren Stellenwert zuweisen und geduldig Brücken bauen.
Solange wir in den Prioritäten der Nachfolge Jesu leben, sind Streit und Diskussion nicht das Problem – manchmal aber die Streitenden selbst. Deswegen fängt Einheit immer auch bei mir persönlich an – mit meiner Liebe, Einsicht, Um-kehr und Bereitschaft zur Arbeit. „What would Jesus do?“ ist eine kluge Frage, die mich dabei beraten kann. Oder, wie es ein Freund gerade mit Blick auf die zunehmende Polarisierung sagte: „Ich frage mich immer, was den Teufel in so einer Situation ärgern würde – und das tue ich.“
Ulrich Eggers