Pastor, Präses, Allianzvorsitzender

Peter Strauch:
Meine persönliche Berufungsgeschichte

Er ist ein Spätberufener, sagte man in meiner Heimatgemeinde, als sich ein guter Freund meiner Eltern mit über 40 Jahren zum Pastorendienst ausbilden ließ. Er war schon lange verheiratet, hatte beruflich eine Spitzenposition und verdiente gut, seine Entscheidung brachte damals viele zum Staunen. Ich war ein angehender Teenager und wusste noch nicht viel über Berufung. In meinen Ohren klang der Begriff eher abstrakt, vielleicht auch ein wenig hochtrabend. Doch ein paar Jahre später hat es dann auch mich erwischt. Ich erlebte, dass Gott mich berief – und das nicht nur einmal, sondern einige Male. Dabei habe ich gelernt: Ein Schema F gibt es hier nicht. Manchmal trifft uns Gottes Ruf geradezu überraschend und völlig unerwartet, manchmal bahnt er sich aber auch über einen längeren Zeitraum an.

Ich war 15 oder 16, als ein Missionsteam aus Kanada in meine Heimatstadt Wuppertal kam. Diese Leute sprachen und sangen begeistert von Jesus, und damals begriff ich, dass er nicht nur mein guter Freund sein will, sondern mich auchin seine Nachfolge ruft. Damit hatte ich mich bisher wenig beschäftigt, aber ich war bereit dazu. So gab ich Jesus Christus eine Art Blankovollmacht über mein Leben – und damit fing meine persönliche Berufungsgeschichte an.

Eine Begabung von Gott ist zum Gebrauch bestimmt

Ursprünglich hatte ich einen Beruf als Werkzeugmacher gelernt, aber mir wurde früh klar, dass das nicht meine Berufung ist. Als Jungscharmitarbeiter und in Kinderfreizeiten hatte ich bereits Andachten gehalten und fand dabei heraus, dass hier eine meiner Begabungen liegt. Es gab andere, die das ähnlich sahen. Sie ermutigten mich, eine theologische Ausbildung zu beginnen, mit dem Ziel, Pastor zu werden. Es gab also keine spektakuläre Anfangsgeschichte, kein übernatürliches Zeichen, das mich zu diesem Schritt bewog. Zu meiner Berufung gehörte ganz einfach die Erkenntnis, wenn Gott dir eine Begabung gibt, dann ist sie auch zum Gebrauch bestimmt. Also machte ich mich auf den Weg.

Auch als es nach einigen Jahren um die Frage ging, wo ich diese Begabung einsetzen soll, verlief die Berufung eher unspektakulär. Das erste Dienstjahr nach dem Examen galt als eine Art Vikariat, und die Entscheidung darüber, an welchem Ort das zu geschehen hat, traf ein dafür zuständiges Gremium. Hätte ich damals den ersten Dienstort selbst wählen dürfen, hätte ich mich wohl nicht für Hamburg entschieden. Immerhin lag die Stadt an der Elbe rund 400 Kilometer vom Wohnort meiner damaligen Braut entfernt – für einen Dienstanfänger ohne Auto eine unerhört weite Entfernung. Ein Bibelvers aus Johannes 21 half mir und meiner Braut, diesen Weg in den Norden als Berufung zu sehen: „Als es schon Morgen wurde, stand Jesus am Ufer.“ Gleich zweimal schrieben wir diesen Satz auf eine Hamburger Ansichtskarte. Wir schnitten sie in der Mitte durch, so dass jeder von uns eine Hälfte hatte. So machten wir uns bewusst: Auch, wenn wir keine Ahnung haben, wie es uns mit diesem Ruf Gottes ergehen wird: Jesus ist bereits da und hat alles vorbereitet (Vers 9)! Offiziell war da zwar die Entscheidung des zuständigen Gremiums, aber das hinderte uns nicht, darin Gottes Berufung zu sehen. Und es stellte sich heraus: Der Weg nach Hamburg war genau richtig für uns. Die sieben Jahre, die folgten, machten uns das unübersehbar klar.

Im Frühsommer 1972 – wir waren inzwischen verheiratet und hatten 2 Kinder – meldete sich ein Besucher an. Er leitete die Jugendarbeit des Bundes Freier evangelischen Gemeinden und war auf der Suche nach einem Nachfolger. So saß er eines Tages bei uns am Mittagstisch und meinte, dieser Auftrag sei genau richtig für mich. Meine Frau und ich spürten zwar, dass ein Dienstortwechsel dran sein könnte, aber ich war mit Begeisterung Gemeindepastor, und der Gedanke an einen Wechsel in die Jugendarbeit war mir völlig neu. So baten wir erstmal um Zeit, die Anfrage zu prüfen, und genau das taten wir. Konkret: Wir sprachen gemeinsam (und auch jeder für sich) mit Jesus darüber, außerdem mit Freunden, die uns gut kannten und von denen wir wussten, sie sind ehrlich zu uns. Einige Wochen später stand die Ampel auf Grün. Ich war bereit zum Wechsel in die Jugendarbeit – zwar nicht mit restloser Sicherheit, aber mit einer inneren Ruhe, diese Richtung einschlagen zu sollen.

Und schon in den ersten Wochen zeigte sich, es war der richtige Weg. Es war die Zeit der „Jesus People“, viele Türen zu jungen Leuten öffneten sich. Von da an war mein Terminkalender gefüllt mit „Offenen Abenden“ und Jugendwochen. Mein Bruder Diethelm und ich begannen, Lieder für Jugendchöre zu schreiben, die wir in Singefreizeiten und missionarischen Konzerten erprobten. In Koblenz begannen die großen Pfingstjugendtreffen mit bis zu 4.000 Leuten, und in Essen startete 1976 das erste Christival, über 12 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nahmen daran teil. Zehn Jahre blieb ich in diesem Bereich, eine unvergessliche Zeit, bis es 1983 zu einer neuen Berufung kam.

Warum ich – trotzdem – Ja gesagt habe

Was dann folgte, ist schwer zu beschreiben. „Bundespflege“ nannte sich die neue Aufgabe für mich, die vor allem aus der Begleitung und Beratung von Pastoren und Gemeinden bestand. Ich bekam damals Post von Wegbegleitern: Johannes Hansen schenkte mir ein Poster mit dem Bild Rembrandts vom „Verlorenen Sohn“ und schrieb dazu: „Eben lese ich, dass Du zum „Bundespfleger“ berufen bist. Dieser schöne Titel ist für mich nicht unmittelbar verständlich, aber offenbar hat man Dir eine große Verantwortung übertragen.“ Und Konrad Eißler schrieb augenzwinkernd: „Mir kommt der Titel so vor, als ob Du zum Chef aller Raumpfleger und Raumpflegerinnen ernannt worden bist.“ Es wurde meine schwerste Berufung. Einerseits war es eine Zeit mit vielen guten Begegnungen, aber auch eine Wegstrecke, in der ich deutlich an meine Grenzen stieß.

Weshalb ich trotzdem Ja sagte zu diesem Weg? Zum einen, weil ich damals nicht wirklich ahnte, was auf mich zukam. Zum andern hatten mir die zehn Jahre Jugendarbeit auch gezeigt, was sich in Gemeinden ändern muss, damit junge Leute in ihnen ihr Zuhause finden. Daran mitzuarbeiten hatte ich jetzt die Möglichkeit. Manche früheren Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus dem Jugendbereich traf ich nun in Gemeindeleitungen. So waren es auch diese eher nüchternen Überlegungen, die mich für die neue Berufung öffneten. Dazu gehörte aber auch ein Bibeltext, den ich bei meiner Einsegnung in diese neue Aufgabe erhielt: „Du sollst heißen, der die Lücken verzäunt und die Wege bessert, dass man da wohnen möge (Jesaja 58, 12).“ Ja, genauso sah ich mich: als ein Lückenschließer, ein Wege- und Brückenbauer. Wieder war es also auch mein Begabungspotential, das mich für diesen Ruf Gottes öffnete.

Ganz anders wurde es dann bei meiner letzten offiziellen Berufung, die mich gegen Ende des Jahres 1989 traf. Völlig unerwartet kam die Anfrage auf mich zu, Präses des Bundes Freier evangelischer Gemeinden zu werden. Ein anderer hatte abgelehnt, so wandte man sich plötzlich an mich. Trotz der Unterstützung der FeG-Bundesleitung und des Zuredens vieler Freunde: Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass dies der Weg für mich ist. Im Laufe eines Dienstlebens werden einem ja nicht nur die eigenen Gaben bewusst, sondernzunehmend auch die Grenzen und Schwächen. Sie schienen mir bei dieser Berufung unüberwindbar zu sein. Mir war klar, für diese Entscheidung brauchte ich ein persönliches Wort von Gott. Um ihn zu hören, fuhr ich im Januar 1990 für eine Woche an die Ostseeküste. Im Jahresschlussgottesdienst meiner Wittener Heimatgemeinde hatte ich eine Spruchkarte mit einem Vers aus dem 25. Psalm „gezogen“. So ging ich am ersten Morgen meiner „Klausur“ an der Küste entlang, in der Hand meine kleine Bibel, aufgeschlagen mit diesem Psalm. Satz für Satz las ich ihn – in der Erwartung, dass Gott zu mir redete. Und genau das tat er. Es fehlt hier der Platz, davon ausführlich zu erzählen. Eine große Bedeutung bekam für mich der zwölfte Vers: „Wer ist der Mann, der den Herrn fürchtet? Ihm will ich den Weg zeigen, den er wählen soll.“ Genau danach sehnte ich mich ja. Aber erfüllte ich die Voraussetzung? War ich ein Mann, der den Herrn fürchtet? Diese Frage ließ mich nicht mehr los. Und sie löste weitere Fragen aus: Wer ist Gott wirklich für mich? Wie ernst nehme ich ihn? Wie groß ist mein Vertrauen zu ihm? Klopfe ich bloß fromme Sprüche oder bin ich wirklich bereit, auf Jesus zu hören und ihm zu folgen, dem Herrn aller Herren und dem König aller Könige? Es wurde eine außerordentlich intensive Zeit, bis ich schließlich begriff: Dies ist Gottes Berufung für mich, nicht nur der Ruf der Bundesleitung und guter Freunde von mir. Übrigens hat mir Edelgard, meine Frau, dabei weder zugeredet noch abgeraten. Aber sie betete intensiv mit mir für die richtige Entscheidung. Daraus wurde dann eine 17-jährige Berufung als Präses, die längste Zeit, die ich jemals in einem Dienstbereich tätig war.

In "Rufnähe" Gottes

Noch vieles könnte ich erzählen von meiner Berufungsgeschichte, etwa in den Vorsitz der Deutschen Evangelischen Allianz und anderer übergemeindlicher Verantwortungsbereiche. Manches davon war untrennbar mit meiner offiziellen Leitungsaufgabe verknüpft, anderes erforderte wiederum eine persönliche Entscheidung, also meine Antwort auf Gottes Ruf. Und bei allem habe ich gelernt: Die Art und Weise, wie Gott einen Menschen beruft, auch die Begleitumstände dabei, das alles kann ganz verschieden sein. Mal ist es ein Bibelwort, mal ein Eindruck oder inneres Bild, mal das persönliche Gabenprofil oder vertrauenswürdige Menschen, die uns kennen und raten. Entscheidend dabei ist vor allem, in Gottes Nähe zu sein. „Rufnähe“ nannten das unsere geistlichen Väter und Mütter, und sie meinten damit ein konsequentes Leben mit ihm und seinem Wort. Übrigens kann ich mich nicht erinnern, die Tür zu einem neuen Arbeitsfeld jemals selbst geöffnet zu haben. So wusste ich, diesen Weg habe nicht ich gewählt. Das gab mir eine große innere Ruhe und Gelassenheit, gerade auch in turbulenten Zeiten.

Und auch das gehört zu meiner Berufungsgeschichte: Oft wurden mir trotz meiner Berufung schmerzhaft meine Grenzen bewusst. Dann half mir, was Corrie ten Boom in einem ihrer Bücher schreibt: Hin und wieder habe sie zu Jesus gesagt, wenn er ihr einen Auftrag gab: „Herr, das schaffe ich nicht.“ Worauf er ihr geantwortet habe: „Das weiß ich, Corrie. Aber ich bin froh, dass du es jetzt auch weißt.“ So ist es, und genauso entspricht es meiner Erfahrung: Gott ist in schwachen Leuten stark! Wäre das nicht so, dann gäbe es meine Berufungsgeschichte nicht.

 

Zum Autor

Der frühere FeG-Präses und ehemalige Allianzvorsitzende Peter Strauch hat in diesem Jahr seinen 75. Geburtstag gefeiert.