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Drehen wir uns mit?
Die Chance der Gegenwart: Veränderung aktiv gestalten
Das Eine vorab: Ich habe nicht den Eindruck, dass die Welt wackelt, sondern dass sie tut, was sie schon immer tat – sie dreht sich. Stillstand hat es, was das Leben auf dieser Erde betrifft, noch nicht gegeben. Veränderung war schon immer an der Tagesordnung. Manche hat sich schleichend und kaum bemerkbar vollzogen. Andere passierte urplötzlich und war tiefgreifend. Durch die Entwicklungen der letzten Jahre, vor allem durch Globalisierung und Digitalisierung, haben Veränderungsprozesse rasant zugenommen.
Deshalb ist für mich die wesentliche Frage für Gemeinde und Gesellschaft: Wollen wir Veränderung aktiv gestalten oder lassen wir uns von ihr mitreißen? Versuchen wir ihr entgegenzuwirken und fühlen uns als Opfer von Entwicklungen, die wir nicht mitgestaltet haben? Oder sehen wir sie als Chance und Notwendigkeit und trauen Gott zu, uns in mancher Unsicherheit und Umwälzung ganz neu zu begegnen?
Viele Studien beschäftigen sich mit den grundlegenden Veränderungen der vergangenen Jahre. Da geht es z.B. darum, dass die Digitalisierung unsere Kommunikation verändert, dass Mobilität zugenommen hat und Beziehungsgeflechte anders gelebt werden, durch gesellschaftliche Ausdifferenzierung eine Vielzahl unterschiedlicher Milieus entstanden ist, dass der Klimawandel eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre sein wird und die Frage danach, wie wir mit Menschen umgehen, die in unserem Land Schutz und Zuflucht suchen.
Und ich frage mich: Wo spiegeln sich all diese Veränderungen in der Art und Weise wider, wie wir Kirche und ihre Rolle in der Gesellschaft denken und gestalten? Da gibt es tolle Beispiele, wie auf diese Veränderungen reagiert wird: Angefangen von Liedern auf Farsi im Gottesdienst, über neue Formen von Kirche in bestimmten Lebenswelten, bis hin zu kirchlicher Gemeinschaft in digitalen Räumen. Doch ist es häufig ein Reagieren und kein aktives Gestalten. Und dieses Reagieren basiert oft auf den Bildern und Vorstellungen, die die Akteure als vermeintlichen Status Quo kennen. Doch schöpft das das Potenzial aus angesichts dessen, was wir gerade an Umwälzung erleben?
Gleichberechtigung durchbuchstabieren
Die Veränderungen der letzten Jahrzehnte sind meines Erachtens so stark, dass wir gut daran täten, nicht aus Erhaltungsmotiven heraus zu handeln, sondern mit erwartender Neugier und Experimentierfreudigkeit. Wenn wir nicht nur reagieren, sondern tatsächlich gestalten wollen, braucht es die Bereitschaft zum Loslassen von dem, was wir als „die Norm“ kennengelernt haben.
Wir brauchen neue Sensibilität für das Hören auf den Gott, der durch die Zeiten mitgeht, auf unsere eigene Geschichte und unsere Gaben und auf den Kontext, in dem wir agieren. Dabei ist es wichtig, kirchliches und gesellschaftliches Miteinander auf Augenhöhe zu gestalten. Was hat die alleinerziehende Mutter einzutragen und wo wird sie gehört? Wie können Kinder ihre Perspektiven und Gaben einbringen? Wo gibt es Entfaltungsraum für Menschen, deren Gaben im bisherigen kirchlichen Geschehen anscheinend nicht gebraucht werden?
Meine große Hoffnung ist, dass Gleichberechtigung dabei immer weiter durchbuchstabiert und Unterschiedlichkeit gesucht und wertgeschätzt wird. Es könnte helfen, das vielgebrauchte Bild vom Leib Christi ernsthaft auf gemeindliches und gesellschaftliches Miteinander anzuwenden. Die Meinung Erwachsener zählt eben oft doch mehr als die von Kindern. Die Lebensumstände von Verheirateten werden oft selbstverständlicher vorausgesetzt als die von Singles. Die Interessen von Männern werden oft vehementer durchgesetzt als die von Frauen. Die Kultur der „Alteingesessenen“ wird oft mehr wertgeschätzt als die der „Neuen“.
Ich glaube, dass diese Strukturen aufgedeckt, benannt und verändert werden müssen, um Gottes Reich der Liebe in dieser Welt zu entdecken und ihm Raum zum Wachsen zu geben. Und dann erscheinen Veränderungen gar nicht wie das große Wackeln der Welt. Sondern wie die Entdeckungsreise von Gottes Reich.
Zum Autor
Katharina Haubold ist an der CVJM Hochschule in Kassel Projektreferentin für das innovative Gemeindenetzwerk „Fresh X“