"Es wird regiert"

Das Beispiel Karl Barth: Predigen in Zeiten großer Umbrüche

I. Welche Umbrüche?


Mehrmals im 20. Jahrhundert fanden Katastrophen statt, mit denen verglichen die aktuelle Pandemie- Krise wie ein überschaubares Ereignis wirkt. Im 1. Weltkrieg fielen die sogenannten „christlichen“ Völker mordend und brandschatzend übereinander her. In der Folge dieses großen Krieges zerbrachen Ordnungen, die gefühlt „schon immer“ in Geltung gestanden hatten. Die „Obrigkeit von Gottes Gnaden“ dankte ab, das Volk sollte sich selbst regieren. „Demokratie“ erschien vielen klugen Menschen besonders in Deutschland nach 1918 als aberwitzig, um nicht zu sagen als „verrückt“. Der Fortgang ist bekannt: In unserem Land kamen ein „Führer“ und eine totalitäre Partei an die Macht, die mit Weltkrieg und Schoah unendliches Leid erzeugten. In Folge dieses zweiten großen Krieges war die Welt danach fünfundvierzig Jahre lang in zwei Hälften geteilt. Oft wird vom „Kalten Krieg“ gesprochen. Doch das stimmt nicht ganz. In vielen Teilen der Welt fanden „heiße“ Stellvertreter-Kriege statt, in denen die ideologische Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus ganz reale Menschenleben kosteten.


Ich möchte die Infektionswelle nicht verharmlosen. Covid-19 ist für die gesamte Welt ein Epochenbruch. Nichts wird mehr so sein wie vor der Pandemie. Umso wichtiger ist, dass wir uns historisch informieren und theologisch orientieren, um jetzt, in unserem Umbruch 2020 nicht die Nerven zu verlieren.
Für diese Orientierung möchte ich gern an die Predigten Karl Barths erinnern.

 

II. Was können wir lernen vom Predigen Karl Barths für den Umbruch 2020?

 

Karl Barth wurde 1886 in Basel geboren und lebte bis 1968. Er hat die Erschütterungen vom 1. Weltkrieg an bis zu den heiß-kalten Auseinandersetzungen in der Zeit des „Eisernen Vorhangs“ bewusst erlebt. Bis 1964 hat Karl Barth regelmäßig gepredigt: als Vikar und Pfarrer von 1909 bis 1921 jeden Sonntag, als Theologieprofessor ab 1921 durchschnittlich etwa viermal pro Jahr.

Für meine Dissertation habe ich 476 Predigten Barths ausgewertet, die er zwischen 1913 und 1964 gehalten hat *1. In der hier gebotenen Kürze möchte ich etwas markieren, was ich an Barths Predigten als besonders inspirierend empfinde.

Als Wichtigstes erscheint mir: Karl Barth hat immer Jesus Christus als Herrn der Welt – und nicht einer religiösen Sonderzone – verkündigt. Als der erste Weltkrieg begann; als im „Land der Dichter und Denker“ Konzentrationslager gebaut wurden; als die Welt in der „Kuba- Krise“ vor der atomaren Selbstvernichtung stand: Karl Barth schaute stets in die Bibel und in die Zeitung. Dabei war die Intensität seines Blicks in beide Richtungen durchaus gleich stark. Sowohl in der Bibel als auch in der Zeitung geht es um Gottes geliebte Welt – um was denn sonst? Für Barth gehören die großen Verheißungen der Heiligen Schrift und die Ereignisseder großen Politik zusammen. Fromme Beschäftigung der Kirche mit sich selbst konnte ihn wütend machen.
Und zugleich hat Barth auf der Kanzel niemals politische Stellungnahmen abgegeben. Er hörte intensiv auf den Bibeltext und gab in seinen Predigten weiter, was er da – für die jeweilige gesellschaftliche Situation – gehört hatte. Barth vertraute der Kraft des biblischen Wortes und der Kompetenz seiner Hörerinnen und Hörer, Gottes Zuspruch und aktuelle Lage ins Verhältnis zu setzen.
Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist eine Predigt zu Lukas 6, 36-42, die Barth am 9. Juli 1933 im Universitätsgottesdienst in der Schloßkirche zu Bonn gehalten hat *2. Die Nazis sind seit einem halben Jahr an der Macht, die Götzen „gesundes Volksempfinden“, „Anständigkeit“, „Rasse“ und „Blutsgemeinschaft“ werden angebetet.

Und Barth predigt:
„Jesus Christus aber nennt seinen Vater unseren Vater. Das bedeutet ein Dreifaches. Einmal: Er gibt uns einen neuen Vater. […] Weiter: Er gibt uns einen ganz anderen Vater, anders als unsere natürlichen und geistigen Väter, einen Vater, von dem wir Herkunft, Leben und Art weder in der Gemeinschaft der Natur, des Blutes, der Familie, des Volkes und der Rasse noch auch in der freien Gemeinschaft des Geistes haben […]. Endlich: Er gibt uns diesen neuen, anderen Vater. Er ist sein, und er ist ursprünglich und eigentlich nur sein Vater. […] Aber dieser ewige Vater hat diesen seinen ewigen Sohn für uns dahingegeben, als Menschen in unsere Menschenwelt gegeben […], damit wir durch ihn und in ihm, als seine nachgeborenen, nein: als die seinetwegen angenommenen Brüder und Schwestern seines Vaters Kinder würden.“ *3


Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren: Karl Barth ging davon aus, dass dieser Gott – der barmherzige Vater Jesu Christi – der Herr der Welt ist und sie nicht aus seinen Händen lässt. Das hat er zeit seines Lebens gepredigt und es am Vorabend seines Todes am 10. Dezember 1968 in die bekannten Worte gefasst: „Ja, die Welt ist dunkel. .... Nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, sondern es wird regiert, und zwar hier auf Erden, aber ganz von oben, vom Himmel her! Gott sitzt im Regimente! Darum fürchte ich mich nicht. ... Gott lässt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns ... ! – Es wird regiert!“ Das gilt – in allen Anfechtungen, die Barths Zeitläufte nicht weniger boten als zu heutigen Zeiten.

 

*1 Vgl. André Demut, Evangelium und Gesetz. Eine systematisch-theologische Reflexion zu Karl Barths Predigtwerk, Berlin New York 2008.
*2 Vgl. Karl Barth, Predigten 1921 – 1935, herausgegeben von Holger Finze, Zürich 1998 (Karl Barth – Gesamtausgabe, Band 31), 287-295.
*3 Vgl. ebd., 288f.

Zum Autor

Pfarrer Dr. André Demut ist Schulbeauftragter der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) für die Propstei Gera-Weimar. Er hat über die Predigten Karl Barths promoviert.